Kategorie: Politik Seite 20 von 27

Amazon verkauft antisemitische Propaganda und Rechtsrock

nazis-scheiayfrisurAls ich diese Meldung neulich bei Störungsmelder las, war ich doch erschrocken – „Amazon jetzt ohne NPD – aber weiterhin mit antisemitischer Propaganda und Rechtsrock“. Bisher hatte ich Amazon als zwar mittlerweile großen, aber dennoch eher unauffälligen Konzern im Konzert der Globalisierung wahrgenommen. Aber wie schon bei Google, das ja auch klein und unscheinbar-sympathisch begann, werden eben auch die Internet-Firmen irgendwann zu ganz normalen Unternehmen mit all ihren Nachteilen. Worum geht es jetzt aktuell bei Amazon? Nun, ein NPD-Ortsverein hatte sich als Amazon-Partner beworben und war auch zugelassen worden, so dass sie ihre reche Scheiße über die Amazon-Site vertreiben konnten. Erst nach heftigen Protesten hat Amazon diese Partnerschaft dann aufgekündigt. Dennoch gibt es nach wie vor zweifelhafte Produkte offen zu kaufen bzw. werden sie über Amazon Marketplace angeboten.

Ein Grund für die Reaktion des Versandhauses könnte eine Strafanzeige des American Jewish Committee (AJC) sein, die vergangene Woche gestellt wurde. Nach eigener Aussage fand das AJC rund 60 rechtsextreme Bücher in denen gegen Juden gehetzt, der Nationalsozialismus verharmlost oder der Holocaust geleugnet wird. Die Bücher würden vor allem von Antiquariaten und Privatpersonen, aber auch von Amazon selbst vertrieben.

Besonders übel finde ich ja die Stellungnahme Amazons, wieso man trotz der Proteste zunächst weiterhin Bücher und Schriften aus dem NPD-eigenen „Deutsche Stimme“-Verlag verkaufen wollte:

„Es gibt eine Nachfrage dafür, die wollen wir befriedigen.“

Ganz schön unsympathisch. Aber Geld und Moral, das ging ja schon immer schlecht zusammen… Eine echte, aus eigenem (ethischen) Antrieb gespeiste Auseinandersetzung mit rechtem Gedankenschlecht, das man nach wie vor bei Amazon finden kann, gibt es bei diesem Unternehmen offenbar nicht, auch wenn die Produkte aus diesem Verlag nach langem Zögern doch noch aus dem Sortiment  genommen wurden:

„Amazon ist ein Händler, keine Regulierungsinstitution“, sagte Pressesprecherin Christine Höger dem Störungsmelder. „Deswegen werden Kunden bei uns auch in Zukunft Titel finden, in denen bedenkliche Inhalte bezüglich des Nationalsozialismus geäußert werden.“

Tja, wir leben halt immer noch in einer Art Demokratie, in der Meinungsfreiheit herrscht… mehr als bedenklich finde ich diese Haltung trotzdem. Selbst das Handelsblatt konstatiert in „Mit Amazon zum SS-Sturmbataillon” über die damals im Juni noch bestehende Zusammenarbeit mit dem NPD-Ortsverband:

(…) Amazon trägt zur Finanzierung der Neonazis bei, und zwar bewusst und wohlüberlegt: Auch das ist schließlich ein Markt, der bedient werden will. Denn so gut wie alle anderen deutschen Buchhändler bieten ja aus ethischen Gründen keine Nazi-verharmlosenden oder verherrlichenden Titel an. Amazon springt in die Bresche – ein Kalkül, das atemberaubend niederträchtig ist. Zum Glück ist niemand gezwungen, bei diesem Unternehmen zu kaufen, das Umsatz mit der SS-Rune macht.

Aufschlussreich ist, was die weniger im Vernebeln geschulten Kundenberater über die Geschäftspolitik sagen. Auf die Frage, ob Amazon auch antisemitische Literatur anbieten würde, denn auch dafür gebe es ja eine Nachfrage, kommt wie selbstverständlich die Antwort: Das würde man rechtlich prüfen und eventuell ins Angebot aufnehmen. (…)

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Noch mal Internetsperren und von der Leyen

Statt eines „richtigen“ Beitrags ist heute mal wieder Zeit für einen kurzen Rückblick auf das, was sich rund ums Thema Internetzensur in der letzten Woche getan hat. Tatsächlich hat sich „unsere“ Familienministerin wieder aus der Deckung gewagt und dem Hamburger Abendblatt ein Interview gegeben, in dem sie dem Springerblatt (ungewollt) offenherzige Äußerungen zu ihrem Demokratieverständnis in den Block diktierte:

abendblatt.de: Sie argumentieren, Grundregeln unserer Gesellschaft müssten online wie offline gelten. Warum sperren Sie dann nicht auch Internetseiten, die Nazipropaganda verbreiten oder Gewalt gegen Frauen verherrlichen?

Von der Leyen: Mir geht es jetzt um den Kampf gegen die ungehinderte Verbreitung von Bildern vergewaltigter Kinder. Der Straftatbestand Kinderpornografie ist klar abgrenzbar. Doch wir werden weiter Diskussionen führen, wie wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten. Sonst droht das großartige Internet ein rechtsfreier Chaosraum zu werden, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann. Wo die Würde eines anderen verletzt wird, endet die eigene Freiheit. Welche Schritte für den Schutz dieser Grenzen notwendig sind, ist Teil einer unverzichtbaren Debatte, um die die Gesellschaft nicht herumkommt.

Man beachte hier die unscheinbaren Wörtchen „jetzt“ im ersten Satz sowie „Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im richtigen Maß“. Darauf entbrannte nicht nur im Netz ein Sturm der Entrüstung, der vdL dazu veranlasste, am letzten Sonntag sogleich zurückzurudern und zu dementieren, was ihre Aussagen im Abendblatt aber natürlich nicht ungeschehen macht. Nur so vor einer Wahl durchblicken zu lassen, wes Geistes Kind sie ist, erschien den Parteiverantwortlichen dann wohl doch zu gewagt.

Ich empfehle zu diesem Thema unbedingt die Lektüre des Artikels von Udo Vetter im lawblogDie Meinungsfreiheit als Sondermüll“, in dem er sehr deutlich macht, wo die Gefahr bei von der Leyens Absichten und Plänen liegen und weshalb ihr Kreuzzug gegen das Internet nur der Anfang sein dürfte – Zitat:

(…) Doch offensichtlich setzt sich in Politikerkreisen die Auffassung durch, dass der stimmberechtigte Deutsche in der Masse nicht viel von seinem Grundgesetz hält. Und dass eine deutlich größere Gruppe als der Stammtisch es gut finden wird, wenn der Staat den Robocop im Internet gibt, dort mit eisernem Besen säubert – und die Meinungsfreiheit als Sondermüll entsorgt. (…)

(…) An den Beispielen sieht man, wie unredlich von der Leyens Stammtischargumente sind. Sie nennt kriminelles Handeln, welches bereits heute unter Strafe steht und verfolgt wird. Dann bringt sie die Menschenwürde ins Spiel und postuliert einen Handlungsauftrag des Staates, der weit über die Verhütung und Verfolgung von Straftaten hinausgeht. Eine zugkräftige, gleichwohl aber billige Argumentation, und zwar in mehrfacher Hinsicht:

Die Menschenwürde zählt, vereinfacht gesagt, zu den Grundrechten. Sie ist ein Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Niemand darf von staatlichen Organen zu einem bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht und seines Selbst beraubt werden; sein Leben ist nicht gegen das Leben anderer abwägbar (ausführliche Beschreibung: Wikipedia).

Frau von der Leyen münzt das Abwehrrecht gegen den Staat in einen Handlungsauftrag des Staates um. Plötzlich ist die Menschenwürde ein Grund für staatliches Eingreifen – der Staat schützt die Menschenwürde seiner Bürger, indem er Dritten den Mund zuhält oder durch Stoppschilder dafür sorgt, dass sie im Internet nicht mehr gelesen, gesehen und gehört werden können.

Das entfernt sich weit vom eigentlichen Sinn und Zweck des Grundrechts auf Menschenwürde. Wie absurd das Ganze ist, zeigt sich an von der Leyens Aussage, die Bewahrung der Menschenwürde begrenze Demokratie und Meinungsfreiheit auf das “richtige Maß”. So werden aus rechtsstaatlichen Grundelementen, die sich bedingen und ergänzen, Gegensätze.

Die böse Absicht darf mittlerweile unterstellt werden. (…)

(…) Wenn man aber nur noch eine Meinungsfreiheit zulassen will, die geschmacklose, unbequeme und für einzelne schmerzhafte Inhalte nicht umfasst, sollte man fairerweise nicht mehr von Meinungsfreiheit sprechen. Von Demokratie vielleicht auch nicht mehr. (…)

Die tolle Meldung aber zum Schluss – das schon beschlossene „Zugangserscherungsgesetz“ ist doch am gestrigen Mittwoch tatsächlich unerwartet noch gescheitert! Wie Carechild berichtet, liegt dies daran, dass der Bundespräsident das Gesetz nicht mehr rechtzeitig unterzeichnen kann – eine schnöde Fristsache, resultierend aus einer Eigenmächtigkeit des Wirtschaftsministers von & zu Guttenberg bzw. seines Ministeriums ist wohl Schuld. Das bringt dem Mann dann doch ein paar Pluspunkte ein. ;-)

Das Bundeswirtschaftministerium hat das Gesetz, Informationen der “Süddeutschen Zeitung” zu folge,  nämlich nicht an den Bundespräsidenten weitergeleitet, sondern an die EU zur “Notifizierung”. Wegen “europarechtlicher Vorgaben” muss das Gesetz, gemäß den Transparenz-Richtlinien, der EU-Kommission vorab zur Kenntnis gebracht werden, damit diese dazu Stellung beziehen kann. Erst dann darf es dem Bundespräsidenten vorgelegt werden.

Bundeswirtschaftminister Guttenberg fährt Ursula von der Leyen damit komplett in die Parade, denn die Notifizierungsfrist der EU-Kommission endet am 8. Oktober 2009. Zu diesem Zeitpunkt ist die Legislaturperiode der jetzigen Regierung aber bereits beendet.

Ein Gesetz, welches nicht vor Ablauf der Legislaturperiode dem Bundespräsidenten förmlich vorgelegt wird, verfällt automatisch nach dem Grundsatz der Diskontinuität und der Gesetzgebungsprozess muss vollständig von neuem beginnen.

Die EU-Vorlage hätte bereits während des Gesetzgebungsverfahrens eingeleitet werden können, wurde aber vom zuständigen Ministerium wohl “vergessen”.

EDIT: Das geht ja zu wie im Tollhaus – nun vermeldet Spiegel Online, dass das Gesetz durch diese Verzögerung nicht verhindert wird und alles wie geplant in Kraft tritt bzw. sogar schon umgesetzt werde: „Kinderporno-Sperren: Aufregung um vermeintlich gekipptes Filtergesetz“.

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Radiotipps für den August

radio_isolated_on_white_with_clipping_pathJa, doch, es gibt im Radio auch noch was anderes zu hören als nur den kommerziellen Düdelfunk und „die größten Hits aus den 80ern, 90ern und von heute“, sprich: genormte Musiktapete. Sender wie Deutschlandradio-Kultur und der Deutschlandfunk werden dem Bildungs- und Informationsauftrag, den das Fernsehen irgendwann auch mal hatte, wenigstens streckenweise noch gerecht, und so gibt es dort immer wieder spannende Sendungen zu Themen wie Globalisierung, Konsumkritik, Politik etc. zu hören.

Vor einigen Tagen kam in der Zündfunk Generator-Reihe im Bayerischen Rundfunk der Beitrag „10 Jahre Gipfelsturm: Und jetzt?“, den man sich HIER als mp3 runterladen kann.

Zehntausende demonstrieren im November 1999 gegen den Millenniumsgipfels der Welthandelsorganisation WTO. Heftige Straßenschlachten rufen zum ersten Mal eine neue Protestbewegung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit: die Globalisierungskritik ist geboren. Schon ein Jahr zuvor hat sich in Frankreich der Verein Attac gegründet. Sein Motto: “Eine andere Welt ist möglich!” Was ist aus der globalisierungskritischen Bewegung geworden? Hat das Ringen um eine „andere Welt“ Erfolge gezeigt? Darüber hat der Zündfunk am 14. Juli in München im Café Muffathalle diskutiert.

TeilnehmerInnen:
KLAUS WERNER-LOBO
NICOLE GOHLKE,  Die Linke
ULRICH BRAND, Bundeskongress Internationalismus
HAGEN PFAFF, Attac München

Im August kommen dann z.B. die folgenden interessanten Sendungen (DLR-K ist Deutschlandradio-Kultur), wobei ich insbesondere auf die Sendung am 16.8. – „Shop till you drop“ hinweisen möchte:

DLF
So. 02.08.2009 · 17:05 Uhr
Die einstige Hegemonie Europas und der USA ist ins Wanken geraten.
Was aus Deutschland werden soll – Kulturelle Perspektiven für das 21. Jahrhundert
Mit dem Auftritt Chinas, Indiens, Brasiliens und der Arabischen Emirate auf dem globalen Markt haben sich die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kräfteverhältnisse weltweit verändert. Die einstige Hegemonie Europas und der USA ist ins Wanken geraten und damit deren Selbstverständnis.
Mit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise werden die tektonischen Verschiebungen wie selten zuvor spürbar. Die Eruption produktiver und kreativer Kräfte in zahlreichen Weltregionen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fordern die Industrienationen, ihre Gesellschaften und politischen Systeme in ungeahnter Weise heraus. Auch Deutschland befindet sich inmitten eines Anpassungs- und Gestaltungsprozesses. Hinzu kommen hier die spezifischen Herausforderungen der europäischen Integration und der deutsch-deutschen Vereinigungsgeschichte. Insgesamt acht “Kulturfragen”, vom 26. Juli bis zum 27. September, widmen sich den zentralen Fragen zu Perspektiven unseres Gemeinwesens. Dabei soll es weniger um utopische Visionen als eher um pragmatische Gestaltungsmöglichkeiten gehen. Zur Frage der “Kultur der Demokratie” wird sich der Verfassungsrechtler und Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio äußern. Der einstige Industriemanager und Buchautor Daniel Goeudevert befasst sich mit der “Kultur der Ökonomie”. Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wird die “Kultur der Medien” untersuchen. Weitere Themen sind Soziales, Bildung, Integration und Religion.

Christoph Schmitz
Sonntags 17:05
Kulturfragen
Ausgewählte Termine:
2. August: Der Industriemanager Daniel Goeudevert über “Kultur der Ökonomie”
9. August: Der Verfassungsrechtler Udo Di Fabio über “Kultur der Demokratie”
23. August: Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher über “Kultur der Medien

DLR-K
Do. 06.08.09 – 19:30 Uhr
Forschung und Gesellschaft
“Kommunikative Stadtplanung”

Neue Impulse für die Demokratie
Von Ralf Bei der Kellen und Kai Steffen

DLF
Di. 11.08.2009 · 19:15 Uhr
Goldrausch
Oder: Vom Verschwinden eines Karpatendorfs (Ortserkundungen)

Von Lavinia Lazar und Carsten Dippel
In den rumänischen Karpaten, eingebettet in eine stolze Gebirgslandschaft, liegt das Goldgräberdorf Roşia Montană. Eine Vielzahl denkmalgeschützter Häuser, die vom einstigen Reichtum der Bewohner zeugen. Schon die Römer haben hier Edelmetalle gewonnen. Nun will eine kanadische Firma an dieser Stelle das größte Goldbergwerk Europas errichten.
300 Tonnen Gold und 2100 Tonnen Silber sollen innerhalb von 17 Jahren abgebaut werden. Um das zu leisten, muss die gesamte Region in eine Kraterlandschaft verwandelt werden. Es droht ein ökologisches Desaster. Zwist und Verfall hat die Firma in den Ort gebracht. Hunderte Familien wurden bereits umgesiedelt. Im jahrelangen Kampf um Roşia Montană sind Familien und Freundschaften zerbrochen. Eine vergiftete Atmosphäre schon heute, obwohl noch nicht einmal entschieden ist, ob das Projekt realisiert wird.

DLF
So. 16.08.2009 · 20:05 Uhr
Shop till you drop
Von Lust und Frust des Kaufens

Von Ingeborg Breuer und Peter Leusch
Die Zeiten, in denen Kaufen als Konsumterror verschrien und verpönt war, sind lange vorbei. Gerade jetzt während der globalen Wirtschaftskrise wird Konsumieren erste Bürgerpflicht, denn sonst brechen Wirtschaft und Gesellschaft zusammen – so zumindest argumentieren Ökonomen. Der Philosoph Norbert Bolz behauptet sogar, dass uns das Konsumieren immun mache gegen fanatische Religionen. Dagegen spricht der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber kritisch von einem “Hyperkonsumismus”, der erwachsene Menschen infantilisiere und schlecht sei für die Demokratie.
Zwischen diesen ideologischen Extremen ist eine Menge Platz. Und so begegnet man in der Welt des Konsums ganz unterschiedlichen Typen. Die Skala reicht von den Konsum-begeisterten, für die es nichts schöneres gibt als einen Shopping-Tag, über Gelegenheitskäufer bis hin zu Konsummuffeln. Mancher Rentner, der noch von den Entbehrungen der Kriegszeit geprägt ist, hat sich zum Schnäppchenjäger entwickelt. Aber es gibt auch den erzwungenen Konsumverzicht für die steigende Zahl der sozial Schwachen, denen das Geld zum Shoppen fehlt. Und dann ist da noch der Konsumverweigerer, der auch die notwendigsten Anschaffungen hinauszuzögern versucht. Er lebt eher asketisch und will sich den inneren Werten zuwenden, sucht Kultur statt Konsum.
Der Ökonomie sind die unterschiedlichen Facetten des Konsums egal: Hauptsache, die Wirtschaft brummt.

DLR-K
Mo. 17.08.09 – 19:30 Uhr
Zeitfragen
Das politische Feature
“Achtung, Sie verlassen den demokratischen Sektor!”
Erkundungen im konservativen Grenzland. Wo endet konservative, auch rechte politische Einstellung und wo beginnt demokratiefeindliches Gedankengut?
Von Hannelore Daue

DLF
Do. 20.08.09 – 10:10 Uhr
Journal am Vormittag
Geschmack, Chemie und Gesundheit – Lebensmittelzusätze und Aromen
Am Mikrofon: Georg Ehring
So viele Erdbeeren kann man gar nicht anbauen, wie für sämtliche Erdbeerjoghurts der Welt erforderlich wären. Für den Geschmack sorgen nicht nur beim Joghurt Aromastoffe aus dem Labor: hergestellt mit Hilfe von Schimmelpilzen, Holzfasern oder Ausgangsstoffen aus dem Chemielabor – häufig unter Einsatz der Gentechnik. Vor allem in Fertigprodukten sorgen Zusatzstoffe und Aromen für Geschmack, Haltbarkeit und gleichbleibende Qualität. Viele Kunden fühlen sich allerdings getäuscht, und Ernährungswissenschaftler warnen: Risiken und Nebenwirkungen sind noch längst nicht umfassend erforscht. Welchen Sinn hat der Einsatz von Zusatzstoffen und Aromen? Was wird unseren Lebensmitteln wirklich zugesetzt, und wie wird es zugelassen? Wie kann ich mich darüber informieren, was ich esse? Und was macht der Ersatz von Natur durch Technik mit unserer Esskultur? Über diese und andere Fragen rund um Lebensmittel und ihre Zusätze diskutiert Georg Ehring mit Hörern und Experten.

DLR-K
Mo. 24.08.09 – 19:30 Uhr
Zeitfragen
Das politische Feature
“Es gibt keine christliche Straßenbeleuchtung oder Können die Freien Wähler mehr als Kommunalpolitik?”
Von Anja Schrum und Ernst Ludwig von Aster

DLR-K
Do. 27.08.09 – 13:07 Uhr
Länderreport
“Auf engstem Raum” Massentierhaltung in Niedersachsen
Von Christina Selzer

DLF
Fr. 28.08.09 – 19:15 Uhr
Dossier
Das Medienquartett:
Medien und Medienpolitik

zur Diskussion

DLR-K
Mo. 31.08.09 – 19:30 Uhr
Zeitfragen
Das politische Feature
“Parolen, Phrasen, Plattitüden”
Wie mit Sprache Politik gemacht wird
Von Thomas Klug

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Sind die Leute alle bescheuert?!

Sorry für die polemische Überschrift, aber als ich diese beiden Meldungen gestern gelesen habe, musste ich doch mehrfach nach Luft schnappen. Da war zum einen die „Nachricht“, dass zwei Meinungsumfragen zu dem Ergebnis gekommen sind, dass der gegelte CSU-Adelige, unser Wirtschaftsminister von und zu Guttenberg mittlerweile der beliebteste Politiker bei den (befragten) Deutschen ist und sogar (!) Angela Merkel noch überholt habe. Man kann sich nur an den Kopf fassen, vor allem aber, wenn man das hier liest:

(…) auch danach ist Guttenberg inzwischen der populärste Bundesminister. Von den Befragten beurteilen bei Emnid 66 Prozent seine Arbeit als gut; hier kommt Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) als Zweitplatzierte auf 58 Prozent. [Quelle]

Wie kann so etwas sein, wer wurde denn da befragt, unter welchem Stein haben diejenigen die letzten Monate verbracht?? Sollten diese Umfragen tatsächlich die Stimmung im Lande repräsentativ widerspiegeln (und nicht bloß geschickt lancierte Meinungsmache sein), so muss man wohl alle Hoffnung auf Besserung und einen Umschwung fahren lassen. Apropos vdL – als hätte sie mit den Internetsperren nicht schon genug Schaden in der Gesellschaft angerichtet, kommt sie nun mit einem neuen gloriosen Vorstoß aus der Deckung: „Von der Leyen fordert Benimm-Regeln fürs Internet“:

Die Familienministerin will einen Verhaltenskodex fürs Internet. Zusammen mit den Verantwortlichen und Jugendlichen müsse ein Benimm-Katalog erarbeitet werden.

Äh… ja. Wäre doch gelacht, wenn unsere Regierung das Netz nicht zu einem antiseptischen, klinisch sauberen und rein konsumorientierten Raum machen kann… Hilfe, wer stoppt diese Frau?!

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Die Herrschaft der Beliebigkeit – Eine Demokratiekritik

streifzuege-logoHach, es ist immer wieder erfrischend, einen Blick auf die Websites der Zeitschriften krisis und Streifzüge zu werfen, denn dort werden tatsächlich einmal kritische Gedanken zu Papier gebracht, die an so mancher als unumstößlich geltenden Normalität unseres Daseins rütteln. Neben der Kritik an der Überhöhung des Wertes der Arbeit und unserer Warengesellschaft wagt sich Autor Peter Klein in der neuen Ausgabe von Streifzüge (Nr. 46/2009 – das Heft gibt es komplett auch als kostenloses pdf!) an ein viele von uns seit Jahren umtreibendes und seit den ganzen Aktionen rund um die Internetsperren und das Ignorieren von E-Petitionen vermehrt beschäftigendes Thema: der Zustand unserer (Parteien-)Demokratie. In „Die Herrschaft der Beliebigkeit – Eine Demokratiekritik“ geht es dem Autor vor allem darum, dass heutzutage schon das Nachdenken über Alternativen und grundlegende Änderungen am momentanen Zustand fast ausgeschlossen erscheint, zumal die Verbindung von Demokratie mit dem (kapitalistischen) Wirtschaftssystem bereits so tief ins allgemeine Bewusstsein gesickert ist, dass auch hier echte Verbesserungen für viele kaum noch vorstellbar sind. Hier (wie üblich) ein paar Auszüge:

(…) Wie bei allen Bewusstseinszuständen, die es zu einer gesellschaftlichen Monopolstellung gebracht haben, ist natürlich auch mit diesem eine Gefahr verbunden. Es entsteht ein ideologischer Nebel, der es den Menschen schwer macht, die Härte und Grausamkeit, die mit der Ausübung jeglicher politischer Macht verbunden ist, deutlich wahrzunehmen. So sind etwa die vom Westen angezettelten Kriege der letzten Jahre trotz ihrer Unbeliebtheit auf bemerkenswert wenig Widerstand in der Bevölkerung gestoßen. Bomben, die im Namen der Demokratie und des Menschenrechts töten, machen anscheinend einen vernünftigeren und harmloseren Eindruck als das, was von „Hass“ und „religiösem Fantatismus“ angetriebene Attentäter tun – mag es militärisch gesehen auch noch so stümperhaft und unwirksam sein. (…)

Überhaupt zeichnet sich die westliche Demokratie durch ein hohes Maß politischer Zumutungs- und Frustrationstoleranz aus. Bei allem Lob der Kritik, bei aller mit Nachdruck zelebrierten Offenheit und Streitkultur – sie hat sich im letzten halben Jahrhundert als ein Hort der politischen Ruhe und Stabilität bewährt. Und dieser Umstand scheint mir von grundsätzlicher Bedeutung zu sein. Er verweist auf die Tatsache, dass die Menschen des Westens, jeder einzelne für sich, ziemlich viel mit sich selbst zu tun haben. Dafür sorgt die politisch-rechtliche Grundstruktur, in der sie sich befinden. Die moderne demokratische Gesellschaft ist eine weitgehend individualisierte Gesellschaft. Das Volk, das herrscht, ist eine rechtliche Struktur, die auf das vereinzelte Individuum zugeschnitten ist. Die Menschen sind hier rechtlich voneinander unabhängige Subjekte, die ihr Leben in freier Selbstverantwortung zu gestalten haben. Was immer diesem selbstverantwortlichen Subjekt zustößt, es handelt sich zunächst einmal um seine eigene Angelegenheit und um sein eigenes Pech. Jeder ist hier seines Glückes Schmied, und das heißt im Umkehrschluss, dass er sich auch das Misslingen und das Unglücklichsein selbst zuzuschreiben hat. Das hämische „Selber schuld!“ liegt mehr auf der Linie des verbreiteten Einzelkämpfertums als die Entwicklung von Solidaritätsgefühlen. Mit anderen Worten: Die Zeiten, in denen man noch politische Überzeugungen hegte und Opfer für sie brachte, sind in der überaus „coolen“ Gesellschaft der westlichen Demokratie lange vorbei. Das Dasein als privater Egoist fristen zu müssen, ist schon anstrengend genug. (…)

(…) Wenn das Nein zur Abwechslung einmal etwas früher auftreten und sich obendrein auch noch Gehör verschaffen könnte, wäre dies in Anbetracht der historischen Erfahrungen sicher von Vorteil. In diesem Sinne möchte ich den hier vorliegenden Versuch einer Demokratiekritik verstanden wissen. Die Krise, mit der wir konfrontiert sind, besitzt nach meiner Auffassung fundamentalen Charakter, das Ende einer ganzen Epoche zeichnet sich ab. Je deutlicher wir uns diese Situation bewusst machen, je besser wir mental darauf eingestellt sind, desto weniger Schmerzen wird uns der Übergang in die postkapitalistische Ära bereiten. Hinter den immergleichen Formeln und Floskeln wie hinter den Gitterstäben eines Käfigs hin- und herzustreifen, ist das Letzte, was uns Not tut. Es kommt im Gegenteil darauf an, diese Gitterstäbe zu durchschauen und zu überwinden. Der Abschied von der kapitalistischen Epoche fällt in dem Maße leicht, in dem sich die Einsicht verbreitet, dass das zu Verabschiedende überflüssig ist wie ein Kropf, dass es gut und nützlich ist, wenn man es hinter sich lassen kann. Der Abschied wird zur Qual ohne Ende, wenn man sich an den gewohnten Maßstäben und Denkformen um jeden Preis festzukrallen versucht. (…)

(…) Es ist schon viel gewonnen, wenn es uns gelingt, zu dieser Konstellation mental und bewusstseinsmäßig auf Distanz zu gehen. Letzten Endes sollte die demokratische Vernunft aber als das aus unsichtbaren Mauern bestehende Gefängnis verstanden werden, das den modernen Menschen daran hindert, seine existenzielle Befindlichkeit ernst zu nehmen und sich auf eine unbefangene Debatte darüber einzulassen.

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LobbyControl enthüllt erneut verdeckte Öffentlichkeitsarbeit – gleiche Methoden und Akteure wie im Fall der Deutschen Bahn

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© julosstock, stock.xchng

Heute reiche ich mal nur eine Info weiter, die ich im LobbyControl-Newsletter erhalten habe – LobbyControl ist ein Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Verstrickungen von Wirtschaft und Politik auf die Schliche zu kommen und sie aufzudecken. Was ihnen in diesem Fall – es geht um Biosprit – erneut gelungen ist und wieder einmal deutlich macht, wie wenig unabhängig Politik heutzutage doch von den permanenten Einflüsterungen aus der Industrie ist.

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Der Verband der Deutschen Biokraftstoffindustrie e.V. (VDB) räumte gestern ein, dass er 2008 monatelang mit unlauteren Mitteln Werbung für seine Ziele – die positive Darstellung von Biosprit – betrieb. Der heutige VDB-Präsident Claus Sauter bestätigte gegenüber LobbyControl, dass der Verband Anfang 2008 das deutsche Lobbyunternehmen EPPA GmbH – bekannt aus dem Zusammenhang mit der Bahn-Affäre im Mai – mit der Erstellung einer Analyse und der Durchführung einer Kampagne beauftragt hat. Wie im Fall der Bahn war die Denkfabrik Berlinpolis an der Ausführung beteiligt. Auch die eingesetzten Mittel gleichen sich.

>> Wie bei der Bahn: EPPA GmbH und Berlinpolis beteiligt

Laut Aussage von Claus Sauter sind Rüdiger May und Josef Grendel bereits Mitte 2007 im Namen von EPPA GmbH an den Verband herangetreten. Umweltverbände und Entwicklungsorganisationen hatten zu der Zeit zunehmend ökologische Bedenken vorgebracht und Biokraftstoffe als Auslöser von Hunger in Entwicklungsländern kritisiert. Die Debatte wurde (und wird) in der Öffentlichkeit sehr kontrovers geführt. Das Angebot der EPPA GmbH habe vorgesehen, eine Analyse der Berichterstattung vorzunehmen und eine Öffentlichkeitskampagne anzuschließen, die der Kritik entgegen wirken sollte.

Im Anschluss an den Vertragsabschluss begannen Mitarbeiter von Berlinpolis, unter Leserbriefe zu veröffentlichen, die nicht als PR gekennzeichnet waren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen findet sich kein Hinweis auf ihre Tätigkeit bei Berlinpolis. Ein Auftragsverhältnis zum VDB ist nicht erkennbar. Die Leserbriefe wurden unter anderem bei FAZ.Net, FR-Online, Welt, Junge Welt, Märkische Allgemeine und der Taz veröffentlicht. Darüber hinaus publizierte der Berlinpolis-Geschäftsführer Daniel Dettling Artikel im Namen von Berlinpolis bei der FTD und der Welt, die sich für die positiven Aspekte des Biosprits aussprachen. Wie schon im Fall der Bahn wurde die Internetseite www.zukunftmobil.de, die inzwischen aus dem Netz genommen wurde, als Plattform für Online-Beiträge genutzt, die nicht als PR erkennbar waren.

Des Weiteren gab Berlinpolis eine Forsa-Umfrage zum Thema Biosprit in Auftrag und veranstaltete eine Podiumsdiskussion mit dem Titel “Tank oder Teller?”. Auf dem Podium anwesend waren unter anderem die CDU-Politikerin und Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen (BMELV), Michael Kauch (MdB und umweltpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion) sowie Helmut Lamp (MDB für die CDU und Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Bioenergie). Eine finanzielle Vergütung der Politiker soll es nicht gegeben haben.

>>Berlinpolis betrieb Webauftritt eines Ministeriums

Weitere Brisanz erhält der Fall durch Artikel der Berlinpolis-Mitarbeiter Katrin Päzolt und Martin Becker zum Thema Energie auf der Website “Kreativen Ökonomie”. Dieser war nicht als PR-Beitrag gekennzeichnet. Die Seite wird vom Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie in Nordrhein-Westfalen betrieben, das sich auch mit Biosprit-Fragen beschäftigt. Aufbau, Programmierung und Pflege der Website unterlag von 2007 bis 2009 Berlinpolis. Laut Wirtschaftsministerium ist der Vertrag aber inzwischen ausgelaufen.

VDB-Präsident Claus Sauter erklärte, nichts von den verdeckten Aktionen gewusst zu haben. Ihm seien lediglich die zwei Artikel von Herr Dettling und der Webauftritt bei zukunftmobil.de bekannt gewesen. Nicht auszuschließen sei jedoch, dass diese möglicherweise mit dem damaligen Präsidium oder der damaligen Geschäftsführung abgesprochen waren.

Nach Angaben des VDB wurde der Vertrag Mitte 2008 vorzeitig gekündigt. Wie viel Geld im Rahmen des Auftrages geflossen ist, will der VDB nicht offen legen.

>> Verpflichtende Lobby-Transparenz dringend nötig

Wie im Fall der Bahn wurde hier mit den gleichen Methoden versucht, Öffentlichkeit und Politik dadurch zu beeinflussen, dass vermeintlich unabhängige Dritte im Sinne der Biosprit-Industrie in die öffentliche Debatte eingriffen. Diese Manipulation von Politik und Öffentlichkeit ist absolut inakzeptabel!

Erst Ende letzter Woche hatte der Deutsche PR-Rat, das Selbstkontrollorgan der PR-Branche, die EPPA GmbH für die Durchführung und Steuerung der Bahn-Affaire öffentlich gerügt. Laut PR-Rat hat das Lobbyunternehmen keinerlei Mitwirkung am Verfahren gezeigt. Deshalb könne nicht bewertet werden, ob EPPA GmbH inzwischen von seinem “unethischen Geschäftsgebaren” Abstand genommen habe. Diese mangelnden Aufklärungsmöglichkeiten des PR-Rates zeigen, dass eine freiwillige Selbstkontrolle im Ernstfall ein zahnloser Tiger bleibt.

Wir fordern daher ein gesetzlich verankertes Lobbyisten-Register, das Lobbyisten zur Transparenz über ihre Auftraggeber und Budgets verpflichtet. Unterstützen Sie unsere Forderung und unterzeichnen Sie jetzt unseren Online-Appell an den Bundestag:
http://www.lobbycontrol.de/blog/index.php/lobby-appell/

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Buchbesprechung: Horst Stowasser „Anarchie!“

stowasser-anarchieEin Buch, das über 500 Seiten mächtig und dazu noch recht eng bedruckt ist, liest man nicht mal so eben flott durch. Folgerichtig habe ich an Horst Stowassers faszinierendem Werk „Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven“ eine ziemlich lange Zeit gelesen und tue mich nun auch ein wenig schwer, eine kurze & knappe Rezension dieses Buches zu verfassen, denn es ist vollkommen ausgeschlossen, in ein paar Zeilen die Fülle an Informationen und Anregungen, die der Autor dem Leser hier vermittelt, darzulegen. Dass es dringend angezeigt ist, sich Gedanken über Alternativen zu den jetzigen bzw. sattsam bekannten (gescheiterten) Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen (Kapitalismus/Marktwirtschaft, Kommunismus) zu machen, verdeutlicht die „Finanzkrise“ tagtäglich aufs Neue und ist ja nun auch schon seit einer Weile ein ständig wiederkehrendes Thema in meinem Blog. Von daher ist Stowassers umfassende Analyse der Ideen der Anarchismus aktueller und notwendiger denn je – alternative Zukunftsvisionen, z.B. jenseits der Warenwirtschaft, zu entwickeln und zu durchdenken findet ja im alltäglichen Politzirkus unserer Parteien-Demokratie leider überhaupt nicht statt.

Wie schon der Untertitel andeutet ist Stowassers Buch in drei große Bereiche gegliedert. Im ersten Teil, „Die Idee“, geht es um die grundlegende Klärung dessen, was Anarchie bzw. Anarchismus eigentlich ist, was er will – und was nicht! Denn leider ist es ja doch so, dass heutzutage die meisten Menschen beim Begriff „Anarchie“ an langhaarige Bombenleger, an Gewalt und Chaos denken. Dass dieses negative Image seine Wurzeln in einer sehr kurzen Phase der Anarchie hat, die Ende des 19. Jahrhunderts dazu führte, dass einige radikale Aktivisten meinten, die Repräsentanten eines verhassten Systems mit Bomben aus dem Weg zu schaffen, führt der Autor später weiter aus – zunächst stellt er klar, dass Anarchie grundlegend gewaltfrei ist und nichts mit chaotischen Zuständen zu tun hat, das Grundprinzip der Anarchie ist von seinen Ursprüngen an „Ordnung ohne Herrschaft“ (das Wort „Anarchie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „keine Herrschaft“). Ich muss dabei gestehen, dass ich bis zur Lektüre dieses Buches selbst wenig über die Ideen wusste, die Anarchie ausmachen und auch eher dem Chaos-Begriff zuneigte. Dabei lerne ich schon auf den ersten Seiten, dass ich von meiner Persönlichkeit her tendenziell zu den „natürlichen Anarchisten“ zähle :-) , also denjenigen, die z.B. ein Problem mit Herrschaftsstrukturen und starren Systemen haben.

Folgerichtig lehnen Anarchisten die Idee und das Konzept eines Staates als Bevormundungs- und auch Unterdrückungssystem ab, aber auch die uns derzeit beherrschende Form der Demokratie als Parteienherrschaft. Eine anarchistische Partei wäre demnach ein Widerspruch in sich (obwohl es so etwas mal in Spanien gab). Generell gibt es – anders als bei Zwangsbeglückungssystemen wie dem Kommunismus als „staatstriefende Version des Sozialismus“ – beim Anarchismus kein starres Programm, kein dogmatisches Regelwerk, nach dem man sich zu richten hätte – die individuelle (aber eher solidarisch verstandene, also nicht neoliberal-egoistische) Freiheit des Menschen steht im Mittelpunkt sowohl der Gesellschaft wie auch der Wirtschaft.

»Der Staat ist eine Abstraktion, die das Leben des Volkes verschlingt – ein unermeßlicher Friedhof, auf dem alle Lebenskräfte eines Landes großzügig und andächtig sich haben hinschlachten lassen.« – Michail Bakunin –

Zu den ersten Höhepunkten von Stowassers Ausführungen gehören für mich, neben den Abschnitten über die anarchistische Kritik am Kommunismus, am Staat und der (Parteien-)Demokratie, das Kapitel „Eine andere Ökonomie“, in der der Autor eine in meinen Augen hervorragende und messerscharfe Analyse unseres Wirtschaftssystems vornimmt und den Finger an viele Wunden legt und dabei auch unsere „Wissenschaft“ (Betriebswirtschaftslehre etc.) nicht verschont. Da ich dieses Kapitel für so grundlegend wichtig halte, habe ich es einmal als eigenes pdf extrahiert (hier herunterzuladen) – jeder BWLer, jeder Banker und alle Anhänger der ach! so sozialen Marktwirtschaft sollten diese 25 Seiten mal gelesen haben… Viele andere Facetten des ersten Abschnitts dieses Buches, sei es das Patriarchat, Gedanken zu einer freieren Kunst, zur Vernetzung, zur Ökologie usw. kann ich an dieser Stelle nicht näher ausführen.

In der Schule – gleichgültig ob staatlich oder religiös geprägt – würden Untertanen hergestellt. Auch wenn als Erziehungsziel offiziell der ›kritische und mündige Staatsbürger‹ gefordert werde, bleibe es immer noch beim Staatsbürger. Neben Lesen, Schreiben, Rechnen und viel ›Sachwissen‹ werde vor allem eines gelehrt: Anpassung an die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse – zwar nicht als Lehrfach, aber überall versteckt. Und selbst das angeblich wertfreie ›Sachwissen‹ stecke bei näherem Hinsehen voller Einseitigkeit, Ideologie und Phantasielosigkeit. Vielfalt, wirkliche Alternativen und vor allem Freiheit des Lernens gebe es nicht.

Im zweiten Teil, „Die Vergangenheit“, liefert uns Horst Stowasser eine packende Zusammenfassung der Geschichte der Anarchie, von frühern Vorläufern, ersten Experimenten, über die Entstehung des Anarchie-Konzepts im 19. Jahrhundert parallel bzw. zu Beginn sogar gemeinsam mit der Entwicklung des Sozialismus – erst nach einiger Zeit begannen sich Sozialisten und Anarchisten in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln. Tatsächlich wurden die Sowjet-Kommunisten (zusammen mit den Faschisten) im 20. Jahrhundert die größten Feinde der Anarchisten und bekämpften diese mit aller Macht. Ich muss gestehen, dass ich im Geschichtsunterricht nichts über diese Entwicklungen gelernt habe und mir diese ganzen Details und Verknüpfungen komplett neu waren; ich kannte nicht einmal die bekanntesten Köpfe der Anarchiebewegung wie Michail Bakunin oder Pierre-Joseph Proudhon. Da Stowasser einen sehr angenehmen, lockeren Schreibstil hat, der nicht unnötig mit Fachvokabular überfrachtet ist, fand ich diese „Geschichtsstunde“ extrem spannend und bereichernd, zumal man erfährt, wie stark die Idee des Anarchismus/Anarchosyndikalismus von allen Seiten der Repression ausgesetzt war. Der Autor findet darum verständlicherweise auch wenig gute Worte über Kommunisten, Kapitalisten und Faschisten, aber auch nicht für Sozialdemokraten und die Gewerkschaften, die ihre ursprünglichen Ideen und Ideale längst auf dem Altar der Machterhaltung geopfert haben.

So deprimierend und hart sich auch manches liest, was dem Leser dort an (ausgerotteter) anarchistischer Geschichte vor Augen geführt wird, so ist es auch faszinierend zu sehen, wie vielschichtig, wie bunt und schillernd diese Bewegung all die Jahrzehnte über war – und dass sie 1936 für 3 Jahre in Spanien (wo die Bewegung auch heute noch am stärksten ist) einige große Städte wie Barcelona unter ihrer Selbstverwaltung hatten und trotz des Kampfes gegen die spanischen Faschisten (den sie am Ende bekanntlich gegen Francos Truppen verloren) dort ein funktionierendes und den Umständen entsprechend blühendes Alltagsleben initiieren konnten.

stowasserEtwas ernüchtert ist Stowassers Analyse des heutigen Zustands des Anarchismus, der aktuell durch eine gewisse Rat- und Richtungslosigkeit gekennzeichnet ist, wobei sich andererseits viele Initiativen, die zwar nicht das Label „Anarchie“ tragen, dennoch aber deren Gedanken in die Tat umsetzen, entwickelt haben – selbst verwaltete Firmen, regionales Wirtschaften uvm. – u.a. darum geht es im dritten und kürzesten Teil, „Die Zukunft“ des Anarchismus.

Am Ende der mehr als 500 Seiten trennt man sich nur ungern von der Lektüre dieses großartigen Buches, das ich wirklich wieder einmal nur jedem ans Herz legen kann. Aber Vorsicht: Wer ein Patentrezept für ein zukünftiges Gesellschaftssystem erwartet, also eine fertige Anleitung mit integriertem Regelsystem, wird enttäuscht sein, denn so etwas widerspräche irgendwie auch dem Geist des Anarchismus. Vielmehr geht es m.E. darum, in vielen Bereichen die festgefahrenen Denkschablonen zu verlassen und Diskussionen über Alternativen zuzulassen und anzuregen. Und zu erkennen, dass Menschen schon seit langem kreativ über ein menschengerechteres Zusammenleben nachdenken. Die Marktwirtschaft ist nicht das Ende der Geschichte.

Ach ja, bevor mir jetzt jemand wieder einen Konsumaufruf unterstellt, weil ich dieses Buch empfehle: Die alte Ausgabe dieses Werkes gibt es tatsächlich legal und kostenlos als pdf im Netz, und zwar auf der Website Mama Anarchija (>> pdf). Diese 1995 im Eichborn Verlag erschienene Version ist gut 100 Seiten schlanker, heißt noch „Freiheit pur – Die Idee der Anarchie“ und diverse aktuelle Entwicklungen und Betrachtungen fehlen natürlich (damals hatten wir beispielsweise noch die D-Mark!), aber als Einstieg ist auch diese Variante durchaus zu empfehlen.

Horst Stowasser: „Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven“, Edition Nautilus 2006, 511 S., 24,90 €

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Die Krise und der Zustand in Island und Italien

Zwei Artikel sind mir gestern über den Weg gelaufen, die sich mit den aktuellen Zuständen und Krisenfolgen direkt in Europa befassen und die mich beide erschrocken haben. Auf Yahoo! fand sich der kurze und bestürzende Bericht „Isländer müssen für Bankenkollaps bluten”, in dem es um die aktuelle Lage in Island geht. Der kleine Inselstaat ist von dem Bankanchaos besonders hart getroffen worden und muss nun drastische Einsparungen und Verschärfungen in Bezug auf die Bürger in Kauf nehmen, und das, obwohl die meisten Menschen ja nichts für diesen Bankenpoker können. In gewisser Weise ist die Beschreibung dessen, was gerade auf Island passiert, eine komprimierte Fassung dessen, was uns auch hierzulande in Zukunft blühen dürfte: das für die Rettung der Banken verpulverte Geld muss ja an irgendeiner Stelle wieder reingeholt werden… Pikant auch, dass eine rot-grüne Regierung in Island solche Beschlüsse fasst.

Knapp neun Monate nach dem Kollaps des isländischen Finanzsektors bekommen die 320 000 Bürger jetzt die Rechnung für die gigantischen Fehlspekulationen von Bankmanagern präsentiert.

Sie sollen nach der Verabschiedung eines «Stabilitäts-Paketes» im Parlament in Reykjavik mit deutlich höheren Steuern, ebenso deutlich verminderten Sozialleistungen des Staates und weniger Geld für Krankenhäuser und Schulen dazu beitragen, das Minus im Staatshaushalt auf zehn Prozent des Bruttonationalproduktes zu beschränken.

faschistische-uniformSowieso schlimm, auch schon vor dem offiziellen Ausbruch der „Finanzkrise“, war die Lage ja in Italien – ein Land, in dem so jemand wie Berlusconi, der die Medien unter seiner Fuchtel und vieles auf dem Kerbholz hat, als Regierungschef gewählt wird, muss masochistisch veranlagt sein. Auf Lumières Dans La Nuit habe ich nun einen Beitrag gelesen, der einen den Atem stocken lässt, denn man kann den Eindruck bekommen, dass Italien direkt auf dem Weg zu einem neuen Faschismus ist – „Krisennews Spezial: Italien”. Zum Beispiel wenn man sich die Uniformen der neu gegründeten „Bürgerwehr“ mit ihrer Sonnenrune anschaut… wie krank ist das!

(…) Berlusconis Regierung hat sich währenddessen auf die Ärmsten der italienischen Gesellschaft eingeschossen. Seine grausame Anti-MigrantInnen Politik schließt ein „Sicherheitspaket” ein, das per Notverordnung eingeführt wurde und in dem medizinisches Personal und HausbesitzerInnen angewiesen werden, mutmaßlich illegale MigrantInnen zu melden. Berlusconi und seine Partner aus der Lega Nord und der „postfaschistischen” Nationalen Allianz haben in Folge mehrerer Vergewaltigungen, die vorgeblich von Nicht-Italienern begangen wurden und denen große mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde, ganz bewusst Migration mit Verbrechen in Verbindung gebracht. Reagiert hat die Regierung mit lebenslänglichen Freiheitsstrafen für die Vergewaltigung Minderjähriger und Überfälle, in denen das Opfer getötet wird. Mit dem Vorschlag, allen Nicht-ItalienerInnen Fingerabdrücke abzunehmen strebt sie die Kriminalisierung aller MigrantInnen an. Am bedenklichsten ist, dass sie den Einsatz von Straßenpatrouillen vorgesehen hat, die von unbewaffneten und unbezahlten Freiwilligentruppen („ronde”) durchgeführt werden – darunter auch pensionierte PolizistInnen und SoldatInnen. (…)

Und Die Welt führt weiter aus:

(…) “Die GNI ist die neueste Erfindung aus der rechtspopulistischen bis neofaschistischen Schmuddelecke Italiens. Es steht für “Guardia Nazionale Italiana”, “Italienische Nationalgarde”. Sie will Ordnung bringen in die italienischen Innenstädte, die sie in einem ständigen Niedergang sieht, vor allem verursacht durch Einwanderer.

Um ihr Ansinnen auch nach außen wirkmächtig darzustellen, greift die “Nationalgarde” in die Altkleidersammlung der Geschichte. Wer mitmachen will, soll eine Uniform tragen, die jenen aus der Zeit des Faschismus ähnelt: Springerstiefel, Khakihemden, schwarze Krawatten. So will “GNI” in Italien Streife gehen, sobald ein Gesetz der Regierung Berlusconi in Kraft tritt, das Bürgerwehren zur Unterstützung der Polizei erlaubt. (…)

(…) “Die Uniformen der “Nationalgarde”, die italienweit etwa 2000 Mitglieder haben soll, lösten erwartungsgemäß heftige Reaktionen aus. Junge Kommunisten diskutieren bereits in Internetforen, eine “Kommunistische Miliz Italiens” zu gründen, und die Nachrichtenagentur Ansa meldet, römische Juden hätten angekündigt, eine “Gegenbürgerwehr” zu gründen, eine “Brigate ebraica”, eine “Jüdische Brigade”. (…)

Grauenhaft, das klingt wirklich nach den 1930er Jahren, was sich da zusammenbraut…

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Zwei spannende Lesetipps (Sommeredition Teil 1)

1178368_sit_and_read_2Michael Jackson ist tot. Über diese weltbewegende Nachricht habe ich in meinem Blog nichts weiter geschrieben und wollte es eigentlich auch weiterhin so halten (Personenkult und „Helden“verehrung sind nicht so meine Welt) – bis ich bei Lumières Dans La Nuit auf einen passenden Nicht-Nachruf gestoßen bin, dem ich inhaltlich eigentlich voll zustimmen kann, insbesondere den Stellen über die Inszeniertheit von Betroffenheit und der Struktur des „Showbiz“ (den Begriff „Funktionsmusik“ finde ich besonders schön) – „Anstelle eines Nachrufs“:

(…) Wenn die Menschen um mich herum auch nur halb so betroffen davon wären, dass ihnen ganz persönlich ein so genanntes “Grundrecht” nach dem anderen entzogen wird und dass ihnen ihr Leben vergällt, geraubt und enteignet wird, während eine kleine Clique von Besitzenden und Mächtigen sich am geraubten Lohn ihres Schweißes mästet, wie sie über den Tod eines sich durch bloßes Hinschauen als recht künstlich erweisenden Produktes der Contentindustrie betroffen fühlen gemacht werden, denn wäre ich für die Zukunft dieser Gesellschaft sehr viel optimistischer. Die industriell erstellte Unterhaltung — auch in ihren scheinbar ernsteren Inhalten, auch in ihren Meldungen vom Tod eines so genannten stars, bei dem bestenfalls die Selbstverstümmelung und die Monstrosität der Fleischvermarktung astronomische Ausmaße angenommen haben — sie ist in ihrer Abstopfung der Sinne und des Sinnes nichts als Unten-Haltung. (…)

(…) Deshalb werden heute noch synthetischere Produkte auf den Markt gespien, Gestalten, für die man zielgruppengerecht eingängige Funktionsmusik komponieren lässt, mit der sie dann für ein paar Wochen oder einen Sommer lang mit aller Macht in die Rundfunkempfänger gepresst werden, auf dass es zu einem Geschäft komme. Das sich auf diesem Wege irgendwelche Menschen zu fans entwickeln, die eine abstrakte persönliche Beziehung zu diesen Gestalten aufbauen, ist dabei explizit unerwünscht. Gewünscht sind austauschbare Nanoprominente für den Augenblick, die ohne Schmerzen für das kleine Investment in ihrem künstlichen Ruhm wieder fallen gelassen werden können. Was den Menschen heute als Glimmerwelt des show business vor Augen gestellt wird, hat längst schon das volle Gepräge jedes anderen Wirtschaftens und erachtet seine Arbeiter (darin seid gewiss: Show ist harte Arbeit!) als Menschenmaterial, als austauschbare Batterie im industriellen Produktionsprozess. Dem entsprechend gering ist auch die Mühe, die zur Jetztzeit in der Vermarktung von Musik aufgewändet wird, sie spiegelt wider, dass es sich hierbei um ein Einwegprodukt handelt, das benutzt und anschließend weggeworfen wird. (…)

Und allen, die nicht davor zurückschrecken, auch mal längere Analysen lesen, sei Helmut Lotters Beitrag „Das Gleichgewicht und der Schrecken“ im brand eins-Magazin ans Herz gelegt. Es geht, grob gesagt, um Ordnungswahn, unser Wirtschaftssystem und wie die Politik darauf einwirkt. Auch wenn so manches in dem Text für mich etwas arg nach FDP klingt – ich finde ja beispielsweise, dass der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik viel zu groß ist (und nicht nur umgekehrt); auch in das Loblied auf die angeblich „soziale Marktwirtschaft“ werde ich hier sicher nicht einstimmen, denn jede dem Wachstum verpflichtete Wirtschaftsform muss irgendwann grandios scheitern (sofern der Planet nicht mitwächst) und wird zudem auf dem Rücken großer Teile der ärmeren Welt ausgetragen –, so sind doch auch eine Reihe interessanter Gedanken enthalten, z.B. auch über Keynes, der ja im heutigen Diskurs wieder von allen Seiten verehrt wird. Zu Unrecht, könnte man nun mutmaßen…:

(…) Stabilität und Wachstum sind in diesem Gesetz ein und dasselbe – und das ist bereits im Wortsinn absurd. Die sogenannte quantitative Operationalisierung des Stabilitätsgesetzes schreibt fest, dass stabile Verhältnisse im Lande dann herrschen, wenn das Wirtschaftswachstum zwischen drei und vier Prozent liegt. So viel Wachstum musste sein, das hatten die Experten auf der Grundlage der Verhältnisse der Jahre 1965 bis 1967 ausgerechnet, um das Gleichgewicht des Wohlstands zu sichern und allmählich auszubauen. Diese Wachstumsraten sind längst zu einem Glaubensbekenntnis geworden, zu einem religiösen Gebot der Volkswirtschaft. Weicht die Realität von diesen Zahlen ab, dann herrscht entweder ungehemmte Euphorie oder Katastrophenstimmung. Nur selten wird gefragt, woher diese Zahlen kommen und ob sie heute überhaupt noch sinnvoll sind. Das ist auch so mit einem weiteren Bekenntnis des Stabilitätsgesetzes, dem zur Vollbeschäftigung. Und bei alldem sollten dann auch noch die Preise stabil bleiben. Ohne Zweifel herrscht der Geist des Stabilitätsgesetzes bis heute. Was bei dieser Logik herauskommt, zeigt sich auf einen Blick. Seit 1967 steigt die Staatsverschuldung rapide an – der Abstieg beginnt damals. (…)

Das Ohnmachtsgefühl sorgt aber nicht dafür, dass energisch gefordert wird, die Gleichgewichtsmaßnahmen zu beenden und einen Neuanfang zu wagen, in dem das einzig relevante Ziel aller Ordnung und Stabilität liegt: ein verständlicher Rahmen, solide Grundsätze, aus denen klare Entscheidungen abgeleitet werden können. Unzählige Interessengruppen intervenieren angesichts der Ordnungsflut und fordern – neue Gesetze, Ausnahmen und Regeln. Wo zu viel ist, ist gleichzeitig nichts mehr. Die Angst vor einem Wechsel und vor der Veränderung führt aber dazu, dass man immer mehr Ordnungs-Werkzeuge und Ordnungs-Regeln anhäuft, an die man sich klammert, ihre Wirkungslosigkeit erkennt und sofort neue Regeln fordert, die oben aufgepfropft werden.

(…) Im Vorwort zur 1936 erschienenen deutschen Ausgabe seines Hauptwerks, “The General Theory of Employment, Interest and Money”, schreibt Keynes, dass seine Theorie “viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst werden” könnte als eine “unter Bedingungen des freien Wettbewerbes und eines großen Maßes von laissez-faire erstellte Produktion. Das ist einer der Gründe, die es rechtfertigen, dass ich meine Theorie eine allgemeine Theorie nenne.” Keynes hat sich mit dem Buch, das in Nazideutschland unzensiert erschien und von Parteiblättern wohlwollend besprochen wurde, ungeniert beim NS-Regime empfohlen. Politiker, die Keynes’ Theorien heute wieder empfehlen, und das sind die meisten, reden also einer “Stabilitätstheorie” das Wort, die gut zur Tyrannei passt, weil sie dafür verfasst wurde. Ob die Gläubigkeit an die staatswirtschaftliche “Allgemeine Theorie” eher auf Dummheit oder auf Naivität fußt, ist bis heute unklar – und unerheblich. Hier wird nichts weiter als das Gleichgewicht des Schreckens empfohlen. (…)

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Der Quelle-Katalog muss leben!

Nichts ist in unserer Gesellschaft so wichtig, wie der Erhalt von Arbeitsplätzen (so sinn- & nutzlos sie auch sein mögen) sowie die Möglichkeit, ungebremst kaufen kaufen kaufen zu können. Klar, dass es sich die Politik im Wahljahr 2009 da nicht nehmen lässt, das marode Versandhausunternehmen Quelle mit Steuergeldern aus der Patsche zu helfen. Rein rechnerisch wird jede Seite des nun doch erscheinenden neuen Quelle-Katalogs mit 36.000 € subventioniert – selten war ein Druckwerk so kostbar. Von der Ressourcenverschwendung durch den Druck so eines Trumms will ich gar nicht erst anfangen. Das Magazin quer auf Bayern 3 im Bayerischen Fernsehen brachte dann letzte Woche auch einen entsprechend satirisch-kritischen Beitrag  „Warum der Quelle-Katalog nicht sterben darf“ sowie die Fotostrecke „Ein Hoch auf den Quelle-Katalog“:

Das Versandhaus Quelle braucht dringend einen Kredit vom Staat, damit es seinen überlebenswichtigen Winterkatalog drucken kann. Eine Bürgschaft über 20 Millionen Euro aus bayerischen Steuergeldern wurde bereits schnell und unbürokratisch zugesagt. Auch wenn Kritiker die Rettungsaktion als kurzsichtige Geldvernichtung anprangern, findet quer: Recht so! Deutschland hat dem Quelle-Katalog so viel zu verdanken, da lohnt jeder Cent.

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