Was sind denn die »Meinungen«, auf denen die Umfragen basieren, anderes als die Ansichten von Menschen, denen es an ausreichender Information und der Gelegenheit zu kritischer Reflexion und Diskussion fehlt? Außerdem wissen die Befragten, daß ihre »Meinungen« nicht zählen und somit ohne Auswirkungen bleiben. Solche Meinungen stellen nur die bewußten Ideen eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt dar; sie sagen uns nichts über die in tieferen Schichten vorhandenen Tendenzen, die unter veränderten Umständen zu den entgegengesetzten Meinungen führen könnten. Der Befragte hat ein ähnliches Gefühl wie der Wähler in einer politischen Wahl, der genau weiß, daß er in Wahrheit keinen weiteren Einfluß auf die Ereignisse nehmen kann, sobald er einem Bewerber zu einem Mandat verhelfen hat. In mancher Hinsicht werden politische Wahlen unter noch ungünstigeren Umständen durchgeführt als Meinungsumfragen, da die semihypnotischen Wahlkampftechniken das Denkvermögen beeinträchtigen. Die Wahlen werden zu einem spannungsträchtigen Melodrama, bei dem es um die Hoffnungen und Ambitionen der Kandidaten, nicht um Sachfragen geht. Die Wähler können an dem Drama mitwirken, indem sie dem von ihnen favorisierten Bewerber ihre Stimme geben. Wenn auch ein großer Teil der Bevölkerung auf diese Geste verzichtet, ist doch die Mehrheit von diesem römischen Spektakel fasziniert, bei dem Politiker statt Gladiatoren in der Arena kämpfen.
Um zu echten Überzeugungen zu kommen, bedarf es zweier Voraussetzungen: adäquate Informationen und das Bewußtsein, daß die eigene Entscheidung Folgen hat. Die Meinungen des machtlosen Zuschauers drücken nicht dessen Überzeugungen aus, sondern sind so unverbindlich und trivial wie die Bevorzugung einer Zigarettenmarke. Aus diesen Gründen repräsentieren die in Umfragen und Wahlen geäußerten Meinungen die niedrigste, nicht die höchste Ebene menschlicher Urteilsfähigkeit.
Erich Fromm, Haben oder Sein, 1979
Schlagwort: Weise Worte Seite 1 von 3
Wegen des großen Erfolges meiner Buchbesprechung von Erich Fromms „Haben oder Sein“ habe ich heute noch ein schönes Zitat aus diesem Werk für Euch:
Die in der Werbung und der politischen Propaganda angewandten hypnoseähnlichen Methoden stellen eine ernste Gefahr für die geistige und psychische Gesundheit , speziell für das klare und kritische Denkvermögen und die emotionale Unabhängigkeit dar. Ich bezweifle nicht, dass durch gründliche Untersuchungen nachzuweisen wäre, dass der durch Drogenabhängigkeit verursachte Schaden nur einen Bruchteil der Verheerungen ausmacht, die durch unsere Suggestivmethoden angerichtet werden, von unterschwelliger Beeinflussung bis zu solchen semihypnotischen Techniken wie ständige Wiederholung oder die Ausschaltung rationalen Denkens durch Appelle an den Sexualtrieb. Die Bombardierung durch rein suggestive Methoden in der Werbung, vor allem in Fernsehspots, ist volksverdummend. Dieser Untergrabung von Vernunft und Realitätssinn ist der einzelne tagtäglich und überall zu jeder Stunde ausgeliefert: viele Stunden lang vor dem Bildschirm, auf Autofahrten, in den Wahlreden politischer Kandidaten etc. Der eigentümliche Effekt dieser suggestiven Methoden ist ein Zustand der Halbwachheit, ein Verlust des Realitätsgefühls.
Erich Fromm, Haben oder Sein
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(…) Konsequenzen: Aufhören aller Individualität bis ins Äußerliche. Nicht ungestraft gehen alle Menschen gleich angezogen, gehen alle Frauen gleich gekleidet, gleich geschminkt: die Monotonie muß notwendig nach innen dringen. Gesichter werden einander ähnlicher durch gleiche Leidenschaft, Körper einander ähnlicher durch gleichen Sport, die Geister ähnlicher durch gleiche Interessen. Unbewußt entsteht eine Gleichartigkeit der Seelen, eine Massenseele durch den gesteigerten Uniformierungstrieb, eine Verkümmerung der Nerven zugunsten der Muskeln, ein Absterben des Individuellen zugunsten des Typus. Konversation, die Kunst der Rede, wird zertanzt und zersportet, das Theater brutalisiert im Sinne des Kinos, in die Literatur wird die Praxis der raschen Mode, des „Saisonerfolges“ eingetrieben. Schon gibt es, wie in England, nicht mehr Bücher für die Menschen, sondern immer nur mehr das „Buch der Saison“, schon breitet sich gleich dem Radio die blitzhafte Form des Erfolges aus, der an allen europäischen Stationen gleichzeitig gemeldet und in der nächsten Sekunde abgekurbelt wird. Und da alles auf das Kurzfristige eingestellt ist, steigert sich der Verbrauch: so wird Bildung, die durch ein Leben hin waltende, geduldig sinnvolle Zusammenfassung, ein ganz seltenes Phänomen in unserer Zeit, so wie alles, das sich nur durch individuelle Anstrengung erzwingt.
(…) die amerikanische Langeweile aber ist fahrig, nervös und aggressiv, überrennt sich mit eiligen Hitzigkeiten, will sich betäuben in Sport und Sensationen. Sie hat nichts Spielhaftes mehr, sondern rennt mit einer tollwütigen Besessenheit, in ewiger Flucht vor der Zeit: sie erfindet sich immer neue Kunstmittel, wie Kino und Radio, um die hungrigen Sinne mit einer Massennahrung zu füttern, und verwandelt die Interessengemeinschaft des Vergnügens zu riesenhaften Konzernen wie ihre Banken und Trusts. Von Amerika kommt jene furchtbare Welle der Einförmigkeit, die jedem Menschen dasselbe gibt, denselben Overallanzug auf die Haut, dasselbe Buch in die Hand, dieselbe Füllfeder zwischen die Finger, dasselbe Gespräch auf die Lippe und dasselbe Automobil statt der Füße.
Stefan Zweig, „Die Monotonisierung der Welt“, 1925 (!!)
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Dass wir glauben, uns alles kaufen zu können, mag auch mit der von Weber identifizierten protestantischen Ethik zusammenhängen, im speziellen damit, dass wir vom Glauben erfüllt sind, uns alles verdienen zu müssen. Es wird uns nichts geschenkt, alles müssen wir uns erarbeiten: “Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist” (1 Mo, 3,19). Daraus leitet sich ab: wenn wir arbeiten, steht uns auch zu, glücklich zu werden – und dieses Glück glauben wir mitunter im Erwerb von Konsumprodukten zu finden. Diese Präsupposition unseres wirtschaftlichen Agierens reproduzieren wir jedes Mal, wenn wir die Frustration ob der Eintönigkeit der Arbeit im Glauben herunterschlucken, uns dank der Arbeit etwas leisten zu können, uns später selbst ein Geschenk zu machen. Was wir uns zur Stillung welches Bedürfnisses kaufen müssen, gibt uns die massenmediale Werbung vor; die Werbung verstärkt unseren Glauben an die Wahrhaftigkeit der Waren als Glücks- und Identitätsbringer, insofern ist die Werbung eine grosse Fetischisierungsmaschinerie. Sie ist zwangsläufig unkritisch, sie zementiert unseren mythischen Glauben gegenüber der Warenwelt.
Christian Leder, „Sexy Ware: Wie aktuell ist Konsumkritik?“
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Zum anderen blenden wir den Verkehr aus, der die meisten Räume dominiert. Womit wir zu akzeptieren scheinen, dass der öffentliche Raum – Beispiel Ausfallstraßen – in weiten Teilen nur Transitzone ist, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Oder der Raum, in dem all die Autos abgestellt werden, die für unser Leben unabkömmlich scheinen. Insofern ist wohl auch die Frage berechtigt, ob wir uns nicht ein Zuviel an öffentlichem Raum leisten – zumindest an einem öffentlichen Raum fragwürdiger Qualität und ausgesprochener “Unkenntlichkeit”.
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„Es ist geradezu das Wesen des Ökonomismus, dass er nicht schlagartig von unserer Lebenswelt Besitz nimmt, sondern schleichend, immer unterhalb der Erregungs- und Skandalschwelle. Jeder Einzelfall ist erträglich, aber in der Summe ist dann irgendwann alles von der Wirtschaft dominiert. Wer sich auf die Wirtschaft einlässt, wie es die Kunstwelt gerne tut, wird von ihr in Beschlag genommen, die Begriffe und Räume werden allmählich besetzt.“
Dirk Kurbjuweit, „Unser effizientes Leben“, 2005
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„Wenn praktisch jeder Aspekt unseres Seins zu einer bezahlten Aktivität wird, wird das menschliche Leben selbst das ultimative kommerzielle Produkt, und die kommerzielle Sphäre wird die letzte Herrin über unsere persönliche und kollektive Existenz.“
Jeremy Rifkin, „Access. Das Verschwinden des Eigentums“
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„[…] die Jeans-, Coca-Cola- und McDonalds-Kultur hat nicht nur die ökonomische, sondern auch die symbolische Macht auf ihrer Seite – eine Macht, die in Gestalt einer Verführung williger Opfer ausgeübt wird. Indem sie Kinder und Jugendliche – speziell diejenigen, denen das Immunsystem dagegen fehlt – zu Adressaten ihrer Verkaufspolitik machen, sichern sich die großen Kulturproduktions- und Diffusionsunternehmen […] mit zugleich erzwungener und komplizenhafter Unterstützung der Werbung und der Medien einen immensen, nie dagewesenen Einfluss auf alle heutigen Gesellschaften, die dadurch einer Art Infantilisierung erliegen.“
Pierre Bourdieu, „Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung“
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