Den spannenden Artikel „Porto Alegres grüne Agenda“ von Gerhard Dilger, den ich auf Wir Klimaretter gefunden habe und den ich freundlicherweise komplett „abdrucken“ darf, möchte ich Euch heute als Leseempfehlung mit auf den Weg geben – er zeigt u.a., dass der in den westlichen Industrienationen mantraartig wiederholte und geradezu beschworene Wachstumszwang in anderen Gegenden längst ernsthaft in Frage gestellt wird. In Südamerika ist man gedanklich also schon weiter als unsere Politiker-Betonköpfe.
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Fünf Tage lang ringt die  Weltbürgerbewegung im  brasilianischen Porto  Alegre  um eine gemeinsame Plattform. Zwischen  Klimawandel, Gemeingütern  und dem Prinzip des “Guten Lebens” bleibt die  Botschaft des  Weltsozialforums dennoch diffus
Aus Porto Alegre GERHARD DILGER
Das Weltsozialforum ergrünt. Wohl kein Konzept wurde auf dem 10.   Geburtstag des Forums in Porto Alegre öfter beschworen als jenes vom Guten  Leben, das seine Wurzeln im Denken der Andenindianer hat und   bereits in den neuen Verfassungen Ecuadors und Boliviens verankert ist.

Auftaktdemonstration zum Weltsozialforum 2010.  (Fotos: Dilger)
Brasiliens grüne Präsidentschaftskandidatin Marina  Silva bezog sich in  einer umjubelten Rede ebenso darauf wie der  portugiesische Soziologe  Boaventura  de Sousa Santos, der sich wünscht, dass das “Gute Leben”  einmal  den westlich geprägten Entwicklungsbegriff ablösen möge. Oder  Daniel  Pascual vom “Komitee für die Einheit der Kleinbauern” aus  Guatemala,  der ähnlich wie seine Kollegen aus Kolumbien oder Peru die  Offensive  von Bergbau- und Agrarmultis in seinem Land schilderte.  Pascual  bedauerte aber auch: “Leider ist die Zeit hier viel zu kurz, um  das zu  systematischer auszuarbeiten.”
So zeigten die auf einen kruden Antikapitalismus fixierten Gruppen  aus  Brasilien, die per Akklamation eine umfangreiche “Erklärung der  sozialen  Bewegungen” verabschiedeten, nur wenig Interesse für den  indigen  geprägten Diskurs ihrer Gäste. Auch die alternative  Klimakonferenz, zu  der der bolivianische Präsident Evo Morales im April  nach Cochabamba  lädt, spielt in ihren Planungen noch keine Rolle.
Allerdings war das Forum, das am Freitag nach fünf Tagen zu Ende  ging, auch keines jener wuselnden Großereignisse, für die Porto Alegre  ab 2001  bekannt geworden ist. Schon wegen des enormen Aufwands finden  die  zentralisierten Megaevents seit 2005 nur noch alle zwei Jahre  statt.  2010 sind noch gut 30 regionale und thematische Foren in aller  Welt  geplant, darunter Anfang Juli das Europäische Sozialforum in  Istanbul.
Immerhin 35.000 TeilnehmerInnen kamen zum südbrasilianischen  Regionalforum in den Großraum Porto Alegre. Die internationale Debatte  blieb auf das  Strategieseminar beschränkt, auf dem “Elemente für eine  neue Agenda” diskutiert wurden. Eigentlich hatten die Organisatoren  geplant, die  wichtigsten Aspekte der zwölf Podiumsdiskussionen mit  Blick auf die  künftigen Foren zu bündeln. Stattdessen gab es eine  allgemeine  Aussprache, die Botschaft blieb diffus.
 Marina Silva  bereitet sich auf die Präsidentschaftswahl im Oktober vor
Marina Silva  bereitet sich auf die Präsidentschaftswahl im Oktober vor
Dabei wird seit dem Weltsozialforum 2009 in Belém mit dem Guten  Leben und dem Komplex “Gemeingüter” in Umrissen ein mögliche  Plattform  sichtbar, auf der sich die unterschiedlichsten Diskurse  zusammenführen  ließen: “Gutes Leben heißt nicht Streben nach mehr  Konsum, sondern nach  Autonomie, Selbstbestimmung, vor allem  Selbstentfaltung”, sagt Silke  Helfrich aus Jena,  die über Gemeingüter referierte. “Bei den Kämpfen um  Wasser und Land,  um Wissen oder Software, geht es um Zugangsrechte und  um  gesellschaftliche Kontrolle, auch um die Frage, wie wir produzieren.”
Die Brücke zwischen der antikapitalistischen Linken und den  Gemeingütern  schlug Edgardo Lander: “Als globales System steht der  Kapitalismus dem  Erhalt des Lebens entgegen”, sagte der venezolanische  Soziologe, “wir  müssen die Wachstumslogik radikal überwinden und zu  einer Umverteilung  des Zugangs zu Gemeingütern kommen.”
Ohne eine kritische Bilanz des Realsozialismus mit seiner “ebenso   zerstörerischen Entwicklungslogik” sei es sinnlos, von einem Sozialismus   des 21. Jahrhunderts zu reden, betonte Lander in Anspielung auf sein   Heimatland. Die südamerikanischen Linksregierungen hielten nicht nur am   herkömmlichen Fortschrittsdenken fest, sondern hätte es sogar vertieft:  “Lula hat die Gentechnik in der Landwirtschaft zugelassen, und unter   Hugo Chávez ist die Wirtschaft Venezuelas abhängiger vom Erdöl als vor   zehn Jahren.
Den zahlreichen Stimmen, die die Niederlage des Neoliberalismus auf  der  diskursiven Ebene feierten, hielt Lander entgegen: “Die  kapitalistische  Gesellschaft hat eine unglaubliche Globalisierung der  Subjektivität  erreicht. Die Vorstellung, das Leben sei gleichbedeutend  mit Konsum, ist  tief verwurzelt”. Die Lage sei alles andere als rosig,  schloss er: “Die individualistischen Muster des Konsums und auch der   Wissensproduktion stehen vor dem endgültigen Sieg.”
Derzeit habe das Finanzsystem Vorrang vor der „Realwirtschaft“ und  der Umwelt, analysierte Susan George, nun gelte es, diese Reihenfolge  umzudrehen. Der „New Green Deal“, der ihr vorschwebt, hat die  Vergesellschaftung der Banken zum Ausgangspunkt. Geld für den  ökosozialen Umbau der Welt gäbe es genug, rechnete die Attac-Denkerin  vor: „Das Vermögen der reichsten 8,5 Millionen Menschen der Welt beläuft  sich auf 38 Billionen Dollar, ein Drittel davon ist in Steuerparadiesen  versteckt“.
Der Geograph David Harvey aus New York sieht das  Grundübel in der Prämisse eines jährlichen Wachstums von  durchschnittlich drei Prozent, zu dem sich Liberale wie Sozialisten  bekennen würden. Die Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte seien die Folge  des „Problems, den Mehrwert zu absorbieren“, meint Harvey.
Das derzeitige Krisenmanagement stelle diese Wachstumslogik ebenso wenig  in Frage wie die Umverteilung von unten nach oben: Über zwei Millionen  US-Amerikaner hätten in den letzten drei Jahren ihre Wohnungen verloren,  während allein 2008 die Manager von neun US-Banken Prämien in Höhe von  32 Milliarden Dollar eingestrichen hätten. „Für den Übergang zu einer  nichtkapitalistischen Ordnung brauchen wir ein Bündnis zwischen den  Unzufriedenen und den Enteigneten“, sagte Harvey.
Den düsteren  Globalanalysen setzte Paul Singer funktionierende Beispiele aus der  Solidarwirtschaft entgegen. „Wir müssen auch über kurzfristige Lösungen  reden“, sagte der austrobrasilianische Ökonom, der seit 2003 als  Staatssekretär für solidarische Ökonomie amtiert. 2007 waren über 1,7  Millionen BrasilianerInnen in 22 000 Kooperativen beschäftigt,  berichtete er, und Jahr für Jahr kämen Tausende selbstverwaltete  Betriebe hinzu.
Der bolivianische UN-Botschafter Pablo Solón warb für den Weltgipfel  der Völker über den  Klimawandel und die Rechte der Mutter Erde, der vom  19. bis 22. April  in Cochabamba stattfindet. “Wir dürfen nicht  zulassen, dass der  Kapitalismus die Erde vollends zerstört”, sagte  Solón. “Die Rechte der  Menschheit können nur garantiert werden, wenn  wir die Rechte der Mutter  Erde respektieren”. In Cochabamba solle eine  “Allgemeine Erklärung der  Naturrechte” ausgearbeitet werden, denn “wir  dürfen die Natur nicht  länger wie einen Sklaven behandeln”.
Auch Solón bekannte sich zum “Guten Leben”, das er als “Teilen statt   Wettbewerb” umschrieb. “Gegen die Folgen des Klimawandels stellt man 10   Milliarden Dollar bereit, für den Krieg 1,3 Billionen”, hob er hervor   und stellte das Projekt von Evo Morales vor, der sich für ein  weltweites  Referendum über solche Prioritäten einsetzt.

Pablo  Solón wirbt für alternativen Klimagipfel in Cochabamba
Dass der Weg über Cochabamba nach Mexiko selbst für die vielfach   zersplitterte Umweltszene nicht leicht sein wird, weiß auch Fátima Melo   vom brasilianischen Netzwerk für die Integration der Völker. “Es reicht   nicht mehr, antineoliberal oder antiimperialistisch zu sein”, sagte  die  Aktivistin aus Rio de Janeiro. “Mit dem Kampf um die Gemeingüter  hat  letztes Jahr in Belém ein neuer Zyklus für die Weltbürgerbewegung   begonnen, der sich auch auf den Straßen Kopenhagens gezeigt hat.”
Nun gelte es, die Vielfalt der Bewegung zu nutzen, um auf die Politik   Einfluss zu nehmen, meint Mello. Angesichts der Wachstumsfixierung  auch  der linken Regierungen, die in Brasilien, Ecuador oder Venezuela  zu  zahlreichen Konflikten mit indigenen Gemeinschaften und  Organisationen  führt, ist das keine leichte Aufgabe.
Pablo Solón lässt denn auch an der Stoßrichtung des Treffens in   Cochabamba keine Zweifel aufkommen: “Gegen die Auswirkungen des   kapitalistischen Systems auf das Klima müssen wir uns weltweit   organisieren”. In Bolivien hingegen bleibe die Industrialisierung des   Landes das oberste Ziel, “damit wir wirtschaftlich unabhängig werden und   den Reichtum umverteilen können”.
In Porto Alegre sei man wieder einen Schritt vorangekommen, hieß es  zum  Abschluss allenthalben. Mehr sei kaum zu erwarten gewesen, findet  auch  Silke Helfrich: “Soziale Prozesse sind immer langsam, da muss man  viel  Geduld haben.”
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