
© siwlian, stock-xchng
Die Debatte um Sarrazins Buch und Thesen neigt sich ja nun hoffentlich bald dem Ende zu, auf dass die nächste Sau durch’s mediale Dorf getrieben werden kann. Dennoch möchte ich noch kurz auf den wirklich lesenswerten Artikel des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel in der ZEIT hinweisen – „Welch hoffnungsloses Menschenbild!“. Ruhig und sachlich zeigt er die Perfidie in Sarrazins Gedankengängen auf, ohne gar zu sehr mit der Rassismuskeule zu wedeln. Ich denke, nach der Lektüre dieses Texts sollte man das Sarrazinsche Werk nicht mehr als Grundlage für irgendwelche Debatten heranziehen, es hat sich selbst als vorgestrig disqualifiziert.
(…) Eines steht fest: Man kann Thilo Sarrazin jedenfalls nicht vorwerfen, er  würde nicht klar und deutlich schreiben, was er denkt und was er will.  Sein Buch ist nicht mehr und nicht weniger als die  Rechtfertigungsschrift für eine Politik, die zwischen (sozioökonomisch)  wertvollem und weniger wertvollem Leben unterscheidet. Er greift dabei  zurück auf bevölkerungspolitische Theorien, die Ende des 19.  Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundlage  für die schrecklichsten Verirrungen politischer Bewegungen wurden.  Staatliche Entscheidungen über gewünschtes und unerwünschtes Leben  führten in Schweden – unter Anleitung von Sozialdemokraten (!) – zu  60.000 Sterilisationen. Und auch in Deutschland war es in den ersten  Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowohl in bürgerlichen wie in  sozialdemokratischen Kreisen durchaus populär, für eine vom Staat  getroffene Unterscheidung zwischen gewünschter und unerwünschter  Fortpflanzung einzutreten. Am katastrophalen Ende bemächtigten sich die  Nationalsozialisten der Eugenik. Andere hatten ihnen dafür den Boden  bereitet, und Wissenschaftler lieferten die perversen Begründungen für  die Auslöschung »unwerten« Lebens. (…)
(…) Das gleiche gilt für ihn auch für den Länderfinanzausgleich zwischen dem Süden und dem Norden Deutschlands, weil »       die in Schwaben lebenden Menschen durchschnittlich einen höheren Intelligenzquotienten haben als jene in der Uckermark (…)«. (S. 24) Nicht die Deindustriealisierung des Nordostens nach der  Wiedervereinigung ist also schuld am hohen Anteil von  Hartz-IV-Empfängern, sondern die genetisch bedingt weniger tüchtige  Bevölkerung (vgl. S. 77). Wer denen im Norden oder im Nordosten Geld  gibt, der schmeißt für Thilo Sarrazin nur Geld zum Fenster heraus, denn  Geld macht nicht klüger. Es führt nur dazu, dass die Dummen weiter unter  sich bleiben können. Aber eigentlich ist das Ganze noch viel schlimmer,  denn selbst die Abwanderung aus dem Norden in den Süden ist kein  Ausweg: Wenn sich nämlich die Norddeutschen mit den Süddeutschen durch  Abwanderung und Heirat vermischen, sinkt die durchschnittliche  Intelligenz der Süddeutschen. Wohlgemerkt: Dieser absurde Unsinn stammt  nicht aus einer Aschermittwochsrede in Bayern, sondern aus dem medial  wie kein zweites Buch gehypten angeblichen »Integrations«-Bestseller  Thilo Sarrazins. (…)
Ja, wie gesagt, es lohnt sich, den gesamten Artikel zu lesen. Wie auch – Themenwechsel – „Die Diktatur des Lebenslaufes“ in der taz. Hatten Kinder und Jugendliche früher noch vergleichsweise viel Zeit und Raum, um sich zu entfalten, um etwas auszuprobieren und Neigungen zu testen, so steht heutzutage das ganze Leben unter dem Damoklesschwert der Karriere, die man möglichst schon in der Grundschule anpeilt und dann konsequent und zielstrebig in so kurzer Zeit wie möglich nach der Uni erreicht. Diese Durchökonomisierung und diesen Einfluss der Effizienz auf das eigene Leben habe ich hier im Blog ja schon einige Male sehr kritisch gesehen.
(…) Fred Grimm ist ein Experte für das Lebensgefühl junger Generationen.  Für sein Buch „Wir wollen eine andere Welt“ hat der Autor in Briefen und  Tagebüchern junger Menschen seit 1900 recherchiert. Die Lage der  aktuellen Jugend analysiert Grimm klar: „Es gab bessere Zeiten, jung zu  sein“. Während der eine Teil der Jugend unter der „Diktatur des  Lebenslaufes“ leide, lebe der andere im Bewusstsein, in der Gesellschaft  überflüssig zu sein.
Ähnlich sehen das diejenigen, die mit den Auswirkungen eines  karriere-orientierten Bildungssystems direkt konfrontiert sind. Der  rheinland-pfälzische Schülervertreter Philipp Bodewing bemängelt die  Ganztags-Gängelung junger Menschen in den Schulen. Immer früher müssten  junge Menschen immer größere Unterrichtsmengen verarbeiten, strikt nach  Lehrplan. Raum zur eigenen Entfaltung bleibe da kaum. (…)
Interessantes gibt es aus der Forschung zu berichten – trotz der unsinnigen Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke hierzulande („unsinnig“ natürlich nur für die Bürger, nicht für die Konzerne) wird auf immer neue Weisen versucht, Energie aus alternativen Stoffen zu gewinnen. Pressetext.de führte unlängst zwei ungewöhnliche Varianten an – „Feuchte Luft kann Strom liefern“ und „Hundekot beleuchtet einen Park“. Es lohnt sich also anscheinend, auch in ungewöhnliche Richtungen zu denken. Ob aus den Experimenten jemals etas wirklicb Verwertbares entspringt, steht natürlich in den Sternen.
Zur Debatte rund um den Wachstumszwang unserer Wirtschaft, den auch die Politiker einhellig am Laufen halten, gibt es einen weiteren gelungenen Beitrag, diesmal von Cornelius Patscha auf changeX – „Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Wachstumsdilemma“. Ich hatte ja vor einigen Tagen bereits auf den neuesten Artikel von Niko Paech hingewiesen (HIER), der allerdings eine noch etwas konsequentere/radikalere Sicht auf das Problem hat.
(…) Doch Wohlstand allein am Umfang des materiellen Besitzes ausmachen zu  wollen, würde zu kurz greifen. Das Wohlergehen des Einzelnen ist  entscheidend. Seit mehr als einem Jahrhundert wird die Mehrung von  Wohlstand jedoch vor allem in einer Mehrung des materiellen Konsums  gesehen. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steht im Fokus  wirtschaftlicher und vieler politischer Aktivitäten. Der Ökonom E.  F. Schumacher, der als früher Prophet der Nachhaltigkeit gilt und die  Wendung “small is beautiful” geprägt hat, machte auf die Tendenz  aufmerksam, dass im Streben nach wirtschaftlicher Expansion die  eigentlichen Ziele in Vergessenheit geraten und die eingesetzten Mittel  ihren Platz einnehmen können. Das Wohlergehen des Einzelnen läuft  Gefahr, weniger Beachtung zu finden, wenn die Sicherstellung der  wirtschaftlichen Expansion vom Mittel zum Ziel wird. (…)
(…) Wenn im Jahr 2050 rund neun Milliarden Menschen nach Nahrung, Kleidung  und einem Dach über dem Kopf verlangen, und darüber hinaus noch nach  einem Auto, einer Villa und einem Pool, stoßen auch lobenswerte und  notwendige Ideen für geschlossene Stoffkreisläufe, wie zum Beispiel  Cradle to Cradle, an ihre Grenzen. Solch eine Weltwirtschaft wäre um ein  Vielfaches größer als unsere heutige. Die Kosten für Umwelt und  Gesellschaft wären es vermutlich auch. Dennoch fahren wir mit voller  Kraft darauf zu. (…)
(…) Ob wir uns in Zukunft weiterhin daran messen, wer sich die meisten,  neuesten, teuersten Güter leisten kann oder wessen Lebensstil Umwelt und  Ressourcen am besten schont, das entscheidet jeder für sich. Doch auch  wenn sich unsere Lebensweise deutlich ändern wird, geht es beileibe  nicht darum, wieder in Höhlen zu hausen. Es wird weiter konsumiert  werden, nur anders und weniger. (…)
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