Werbung am Rande der Apokalypse (Teil 1)

Über die vielen negativen Auswirkungen der Reklameindustrie und der gesamten Marketingmaschinerie, die sich in immer mehr Lebensbereiche der Menschen ausbreitet, habe ich hier im Blog ja schon des öfteren geschrieben. Dennoch ist dieses Thema so wichtig – und da es immer noch viel zu viele Leute gibt, die Werbung bloß für ein notwendiges Übel oder sogar für etwas Wertvolles halten, werde ich nicht müde, die Schädlichkeit der Reklame zu betonen. Deshalb war ich auch sehr erfreut, als ich neulich den Artikel „Advertising at the Edge of the Apocalypse“ von Prof. Sut Jhally aus dem Jahre 1999 entdeckte, der seitdem natürlich nichts an Aktualität verloren hat. Mit seiner freundlichen Erlaubnis präsentiere ich Euch seinen Text hier in der von mir übersetzten Fassung – da er sehr lang ist, werde ich ihn hier in mehreren Teilen veröffentlichen. Ich beginne heute – ganz überraschend – mit Teil 1:

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Werbung am Rande der Apokalypse

In diesem Artikel möchte ich eine einfache Behauptung aufstellen: die Werbung des 20. Jahrhunderts ist das mächtigste und dauerhafteste Propaganda-System in der menschlichen Geschichte und seine kumulierten kulturellen Auswirkungen werden mitverantwortlich dafür sein, die Welt, wie wir sie kennen, zu zerstören. Wenn sie dies erreicht, wird sie verantwortlich für den Tod Hundertausender von Menschen sein und die Menschen der Welt daran hindern, glücklich zu werden. Einfach ausgedrückt hängt unser Überleben als Spezies davon ab, die Gefahren der Werbung und der Kommerzkultur, die sie ausgelöst hat, zu minimieren. Ich habe diese Behauptung dick gedruckt, damit niemand Zweifel darüber haben kann, was in unseren Diskussionen über Medien und Kultur auf dem Spiel steht, während wir das neue Jahrtausend betreten.

Kolonisierung der Kultur:

Karl Marx, der hervorstechende Analytiker des Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts, schrieb 1867 zu Beginn von „Das Kapital“: „Der Reichtum von Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise vorherrscht erscheint als ein ‚gewaltige Anhäufung von Güten‘“. Bei der Suche, sein Analyseobjekt von früheren Gesellschaften zu unterscheiden, bezog sich Marx daruaf, wie sich eine Gesellschaft an der Oberfläche präsentiert und hob eine quantitative Dimension heraus – die Anzahl von Gegenständen, mit denen Menschen im Alltag interagierten.

In der Tat war keine andere Gesellschaft in der menschlichen Geschichte in der Lage, dem immensen produktiven Ausstoß des industriellem Kapitalismus das Wasser zu reichen. Diese Tatsache prägt auch den Weg, wie die Gesellschaft sich selbst darstellt – die Art, wie sie erscheint. Überall im Kapitalismus gibt es Produkte/Gegenstände. In diesem Sinne ist der Kapitalismus wirklich eine revolutionäre Gesellschaftsform, die die Landschaft des sozialen Lebens dramatisch verändert, in einer Art und Weise,wie es keine andere Form der sozialen Organisation in so kurzer Zeit zuvor geschafft hat. Dieses sticht Marx als besonderes Unterscheidungsmerkmal ins Auge, als er das London des 19. Jahrhunderts beobachtet. Der Ausgangspunkt seiner eigenen Kritik ist deshalb nicht das, war er für die treibende Kraft der Gesellschaft hält (Kapital) und auch nicht das, von dem er glaubt, dass es Wert und Wohlstand schafft (Arbeit), sondern die Ware/das Produkt. Von dieser oberflächlichen Erscheinung geht Marx daran, die äußere Hülle der Gesellschaft zu durchdringen und die darunterliegende Struktur zu analysieren, die in den „versteckten Wohnstätten“ der Produktion liegt.

Es reicht natürlich nicht aus, diese „gewaltige Anhäufung an Waren“ herzustellen, sie müssen auch verkauft werden, so dass weitere Investitionen in die Produktion durchführbar sind. Sobald sie hergestellt wurden, müssen Waren in den Kreislauf von Vertrieb, Verkauf und Konsum eingespeist werden, so dass ein Profit zum Besitzer des Kapitals zurückfließen und ein Wert in Geldform „realisiert“ werden kann. Wenn der Kreislauf nicht komplett durchlaufen wird, würde das System kollabieren und Stagnation und Depression hervorrufen. Kapitalismus muss deshalb auf Teufel komm raus den Verkauf der Waren sicherstellen. In dem Sinne ist das Problem des Kapitalismus nicht die Massenproduktion (welches gelöst wurde), sondern das Problem des Konsums. Deshalb ist es seit den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts an zutreffender, die Beschreibung „die Konsumenten-Kultur“ zu benutzen, wenn es darum geht, westliche Industrie-Marktwirtschaften zu charakterisieren.

Der Konsum ist dermaßen bedeutend für sein Überleben und Wachstum, dass der Industrie-Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts eine einzigartige neue Einrichtung ins Leben rief – die Werbeindustrie –, um sicherzustellen, dass die „gewaltige Anhäufung an Waren“ zurück zu Geld transformiert wurde. Die Aufgabe dieser neuen Industrie sollte es sein, die besten kreativen Köpfe der Gesellschaft anzuwerben und eine Kultur zu erschaffen, in denen Wünsche und Identität mit Produkten verknüpft werden, um die tote Welt der Dinge mit menschlichen und sozialen Möglichkeiten lebendig zu machen (etwas, das Marx prophetisch den „Waren-Fetischismus“ nannte). Und in der Tat hat es niemals einen vergleichbaren Propaganda-Aufwand gegeben wie den der Werbung des 20. Jahrhunderts. Mehr Nachdenken, Anstrengungen, Kreativität, Zeit und Aufmerksamkeit fürs Detail wurde in den Verkauf der gewaltigen Produktanhäufung gesteckt als in jede andere Kampagne der Menschheitsgeschichte, um das öffentliche Bewusstsein zu ändern. Ein Indikator dafür ist ganz einfach die Summe an dort investiertem Geld, die bis zum heutigen Tag exponentiell gewachsen ist. Heutzutage werden alleine in den USA über 175 Milliarden US$ pro Jahr ausgegeben, um uns Dinge zu verkaufen. Solch eine Konzentration an Bemühungen gab es zuvor noch nie.

Es ist deshalb keine Überraschung, dass etwas so Zentrales, für das so viel Geld ausgegeben wird, in unserem sozialen Leben eine so wichtige Rolle spielt. Kommerzielle Interessen, die darauf abzielen, den Konsum dieser gewaltigen Anhäufung von Waren zu maximieren hat mehr und mehr Räume unserer Kultur mit Beschlag belegt. Beispielsweise wurde praktisch das gesamte Mediensystem (Fernsehen und Presse) als ein System fürs Marketing entwickelt – seine Hauptfunktion besteht darin, Publikum zu generieren, das an Werbetreibende verkauft werden kann. Sowohl die Werbung, die über diese Medien transportiert wird wie auch die journalistischen Inhalte, die als Begleitung dienen, feiern die Konsumentenkultur. Die Filmkultur, einst außerhalb des direkten Einflusses des breiteren Marketingsystems aktiv, ist nun über Strategien wie Lizensierungen, Produkt Placements etc. vollkommen integriert. Die Hauptfunktion vieler Holywoodfilme besteht heutzutage darin, dem Abverkauf von Produkten zu helfen. Da öffentliche Gelder vom nicht-kommerziellen Kulturbereich abgezogen werden, kämpfen Kunstgallerien, Museen und Symphonieorchester um das Sponsoring durch Konzerne. Selbst diejenigen Einrichtungen, von denen man dachte, dass sie außerhalb der Marktlogik stünden, werden hineingesaugt. Hochschulen verkaufen nun die Werbeflächen an ihren Bussen, den freien Platz in ihren Fluren und die Zeit & Aufmerksamkeit ihrer Schüler an Händler, die Schokoriegel, Softdrinks und Jeans verhökern. In New York werden Sponsoren für öffentliche Spielplätze gesucht. In der heutigen Welt wird alles von irgendwem gesponsert. Die neuesten Pläne der Space Marketing Inc. suchen nach Raketen, um kilometerlange Plakatwände zu transportieren, die mit der Sonne und dem Mond um die Aufmerksamkeit der Erdbevölkerung konkurrieren.

Weil Werbebotschaften überall zu finden sind, von den Früchten im Supermarktregal über Urinale bis hin zu dem Platz zwischen unseren Füßen (Bamboo Lingerie ließ eine Kampagne in Manhatten durchführen, bei der auf den Bürgersteig „Von hier aus sieht es aus, als wenn Sie neue Unterwäsche gebrauchen könnten“ gesprüht wurde), kann es nicht verwundern, dass viele Berichterstatter inzwischen den Bereich der Kultur einfach als eine Beigabe zum System der Produktion und des Konsums ansehen.

Die kommerzielle Durchdringung unserer Kultur ist in der Tag so überwältigend geworden, dass sie für die Marketingleute ihre ganz eigenen Probleme geschaffen hat, weil diese sich nun den Kopf darüber zerbrechen müssen, dass ihre jeweilige Botschaft aus dem „Lärm“ und dem „Wirrwarr“ dieser geschäftigen Umgebung herausragt. In diesem Sinne sind die Hauptkonkurrenz für Werber nicht einfach andere Marken ihres Produkttyps, sondern alle anderen Werbetreibenden, die um die Aufmerksamkeit einer zunehmend zynischer werdenden Öffentlichkeit buhlen, die alles tut, um Reklame auszuweichen. Es ist ein merkwürdiges Paradox, dass der Job eines einzelnen Werbers umso schwieriger wird, je mehr Raum Werbung in unserer Kultur belegt. Deshalb werden immer mehr Sorgfalt und Ressourcen in die Erschaffung kommerzieller Botschaften gesteckt – viel mehr als in die begleitenden redaktionellen Inhalte, die dazu gedacht sind, die Aufmerksamkeit der Leute zu fesseln. Wenn wir landesweit ausgestrahlte Werbespots mit etwas vergleichen wollen, müssten wir dies wohl mit den teursten Blockbustern im Kino tun. Auf die Sekunde umgerechnet kostet ein durchschnittlicher Reklameclip mehr als ein Film wie Jurassic Park.

Die beiden Folgen dieser Entwicklungen sind, dass Werbung überall ist und gewaltige Summen an Geld und Kreativität für sie ausgegeben werden.

Wenn Marx in der heutigen Zeit schreiben würde, glaube ich, dass er nicht nur durch die Gegenwart von noch mehr Gegenständen betroffen wäre, sondern auch durch den allgegenwärtigen „Diskurs durch und über Gegenstände“, der die öffentlichen und privaten Räume durchzieht. (siehe Leis et al. 1990, S. 1) Dieser kommerzielle Diskurs ist die Grundlage, auf der wir leben, der Raum, in dem wir zu denken lernen, die Linse, durch die wir die Welt um uns herum zu erkennen lernen. Wenn wir verstehen wollen, wohin wir als Gesellschaft uns bewegen, ist eine adäquate Analyse dieser kommerziellen Umwelt unentbehrlich.

Zu diesem Verstehen gehört auch eine Klarstellung, was wir mit der Macht und Effektivität von Anzeigen meinen, und in der Lage zu sein, die richtigen Fragen zu stellen. Allzu lange konzentrierte sich die Diskussion darauf, ob Werbekampagnen Nachfrage für ein spezifisches Produkt erzeugen. Wenn du Pepsi, Ford oder Anheuser Busch bist, mag das die richtige Frage für dich sein. Aber wenn du dich für die soziale Macht der Werbung und den Einfluss von Werbung auf die Gesellschaft interessierst, ist das die falsche Frage.

Die richtige Frage wäre, nach der kulturellen Rolle der Reklame zu fragen, nicht nach ihrer Marketingrolle. Kultur ist der Platz und Raum, in dem eine Gesellschaft Geschichten über sich selbst erzählt, in der Werte ausgedrückt und artikuliert werden, wo Vorstellungen von Gut und Böse, Moral und Amoral definiert werden. In unserer Kultur dominieren die Werbegeschichten die Räume, die diese Funktion vermitteln. Da Menschen im Pinzip geschichtenerzählende Wesen sind, bedeutet das Studium der Werbung die Untersuchung des zentralen Geschichtserzählungsmechanismus unserer Gesellschaft. Die korrekte Frage, die man aus dieser Perspektive stellen muss, ist nicht, ob eine spezielle Anzeige die Produkte, die es anpreist, auch verkauft, sondern was die stets gleichartigen Geschichten sind, die Werbung als solche darüber verbreitet, was wichtig in der Welt ist, wie man sich verhalten soll, was gut und was schlecht ist. Letztlich muss man also danach fragen, welche Werte Werbung permanent verbreitet.

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Die nächsten Teile folgt dann in den nächsten Tagen! Teil 2 HIER, Teil 3 HIER und Teil 4 HIER

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4 Kommentare

  1. Gast Geber

    Danke für den Link :)

    ein sehr schöner und vor allem prägnanter Artikel.

  2. NannyOgg07

    Danke auch von mir…

    Ohja, der gute alte Marx :-)

    Gruß mone

  3. und es geht heute doch noch viel weiter – dieser riesige bereich schönheit und nicht alt werden. meine kleiner sohn hat eine warze am fuß und soll zum hautarzt, ich such nach einem in unserer stadt – dermatologen gibt es nicht viele und es gibt keinen, der auf seiner internetseite nicht auch anbietet, dass er falten bügelt und mit giftspritzen hantiert, ich finde das eine zumutung für eine frau mit 45 plus und lebensfreude-fältchen um die augen…. beim frauenarzt geht es weiter, im wartezimmer, wenn du auf deine krebsvorsorge wartest, trötet dir von einem 2,5 meter flachbildschirm entgegen, dass du sicher traurig bist darüber, dass deine möpse nach der geburt und dem ewigen stillen nicht mehr so klein rund und knackig sind wie davor – aber du brauchst dir da gar keinen kopf zu machen, das tut nicht weh, geht ganz easy dank der neuen high-tec-wunder-subcutan-technik und die kosten für die operation kannst du auch ganz easy mit dem op-finanzierungangebot der gynäkologischen hausbank zu einem super-günstigen zinssatz auf 64 monate verteilen. vorteil ist hier ganz klar auch die implantat-rückbau-versicherung. jetzt reicht es mir endgültig. ich verlasse die praxis …. demnächst erzähl ich dann noch was über dem totalangriff von pharma- und gesundheitsmafia auf werdende mütter und ihre schutzlosen ungeborenen und neugeboerenen

  4. Es ist anzumerken, je mehr wir uns mit Dingen von aussen beschäftigen, desto weniger beschäftigen wir uns mit Dingen in uns.

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