Dies ist die Fortsetzung meiner gestern begonnenen Übersetzung des Artikels „L.A. Law: How Hollywood is shaping our legal system“ von Julie Scelfo, der unter dem Titel „When law goes Pop“ im Stay Free Magazin #18 erschien. Es ist ein sehr interessantes und in Bezug auf den Einfluss, den das Fernsehen mittlerweile auch auf unsere Rechtssprechung hat, enthüllendes Interview mit dem Juraprofessor Richard Sherwin.
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Julie Scelfo (J.S.): Im amerikanischen Rechtssystem sollen Anwälte sich auf Rechts-Argumente stützen, nicht auf Gefühle. Was passiert mit Verhandlungen, die auf dieser Art von nicht greifbaren – und in manchen Fällen unterbewussten – Methoden basieren, im Gegensatz zu den traditionellen mündlichen Argumenten, die auf Fakten beruhen?
Richard Sherwin (R.S.): Die größte Angst, die mit visuellen Überzeugungsmethoden verbunden ist, ist die Vorstellung, dass das Ideal der rationalen Überzeugung kurzgeschlossen wird mit einer eher emotionalen Form der Beurteilung. Die Furcht ist, dass einige Formen von Vorurteilen, die bei einer mündlichen Präsentation nicht zum Tragen kommen, auf der visuellen Ebene funktionieren können, weil visuelle Bilder so überbestimmt sind. Irgendwo dort in den unbewussten Tiefen des Bildes schweben einige nützliche Assoziationen herum. Eine der Sachen, de ich mit meinem Buch erreichen möchte, ist, Richter über die Komplexität der visuellen Bilder aufzuklären, so dass sie mit diesen Gefahren der Vorurteile effektiver umgehen können.
J.S.: Lesen Richter das Buch?
R.S.: Ich stehe in Kontakt zu Richtern, und sie sind begierig darauf, solchen Input zu bekommen, weil sie mehr und mehr visuelle Medien im Gerichtssaal sehen, wie z.B. Überwachungsvideos, die bearbeitet wurden. Denken Sie an den Fall von Rodney King, wo Sie einen Staatsanwalt hatten, der absolut überzeugt davon war, dass es ein klarer Fall war, der auf dem George Holliday-Video fußte, das King zeigte, wie er von der Polizei verprügelt wurde. Er machte sich nicht bewusst, dass die Anwälte, die die L.A. Polizeibeamten verteidigten, durch Editierung der Bilder die ganze Geschichte geändert hatten.
J.S.: Wie haben sie das Video bearbeitet?
R.S.: Die Verteidiger verlangsamten es enorm, so dass man Bild-für-Bild-Sequenzen sah, die die Gewalt abmilderten. Aber noch viel schlimmer für die Anklage war eine Veränderung der Geschwindigkeit der Bilder im Zusammenhang mit der Verteidigungs-Theorie. Die Verteidigungs-Theorie war, das Rodney King alles unter Kontrolle hatte und dass er, wenn er die vorgeschriebene Bauchlage eingenommen hätte, nichts weiter passiert wäre. Der einzige Grund, weshalb er geschlagen wurde, so ging die Argumentation, war, dass er sich der Festnahme widersetzte. Und was die Bilder in der verlangsamten Form zeigten, war Rodney King, wie er sich nach oben bewegte, und ein Schlagstock, der niedersauste.
S.J.: In der Reihenfolge?
R.S.: In der Reihenfolge. Als Kings Gliedmaßen nach unten gingen, ging der Knüppel nach oben und ein anderes Körperteil ging nach oben und ein anderer Schlagstock sauste nieder. Und genau das haben die Geschworenen gesehen. Mit anderen Worten, sie lasen Kausalzusammenhänge in die Bilder. Die Verteidigung orchestrierte das Video so, dass die Geschworenen Kausalität ableiteten.
S.J.: Was gegen die Intuition ist. Man würde denken, dass das Videoband die Geschworenen zu dem Schluss bringen würde, dass die Beamten, die King schlugen, schuldig waren.
R.S.: Der Staatsanwalt forderte die Geschworenen unablässig dazu auf, sich das Band anzuschauen, ohne mehr zu sagen. „Sehen Sie sich nur das Band an.“ Aber was ihm nicht klar war: die andere Seite hatte die Bedeutung der Bilder okkupiert, indem sie die Geschichte in einer anderen Weise erzählten, so dass, wenn die Leute das Videoband sahen, sie es durch die Augen der Verteigungs-Geschichte betrachteten. Der Staatsanwalt bot keine eigene Erzählung an, und deshalb war dies die einzige Geschichte, die die Geschworenen hatten. Sie benutzen sie, um die Informationen, die sie auf dem Video sahen, zu ordnen. Kognitive Psychologen haben gezeigt, dass die Art, wie Menschen zu Beurteilungen in Rechtsfällen gelangen, ist, indem sie eine Geschichte erzählen, wie alles geschah. Anwälte gewinnen Prozesse, indem sie die beste Geschichte erzählen – diejenige, die die meiste Glaubwürdigkeit versammelt, diejenige, die am meisten Sinn ergibt, diejenige, die am anziehendsten wirkt. Und wenn man selbst keine Geschichte erzählt, und die Gegenseite eine eigene Story bietet und man selbst nur Bruchstücke von Argumenten, wird man es bedeutend schwerer haben, die Geschworenen zu überzeugen.
J.S.: Ich weiß nicht, wie Sie in Bezug auf den King-Prozess fühlen, aber würden Sie den Einsatz visueller Technologie als Erfolg werten?
R.S.: Ich bin ein unbedingter Verteidiger des Systems der Prozessgegner, aber nur, wenn es wirklich funktioniert. Wenn ein Anwalt oder ein Richter nicht ausreichend in einem Medium geschult ist, wie z.B. in den visiuellen Medien, dann sollte dieses Medium nicht für das Kreuzverhör verwendet werden. Und wenn es nicht in dieser Weise angewendet wird, ist das System der Prozesgegner nicht wirklich funktionsfähig. Das Problem, das ich mit dem King-Fall habe, ist, dass es die Verteidigung zu einfach hatte. Wenn ein Staatsanwalt mit der selben Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und der selben Medienkompetenz um das Urteil der Geschworenen gekämpft hätte, dann hätten wir meiner Ansicht nach einen anderen Prozessausgang erlebt.
J.S.: In anderen Ländern, vor allem in Kanada, ist Medienkompetenz bereits seit langer Zeit Teil der Ausbildung. Medienkritiker in diesem Lande haben sich längst dafür stark gemacht. Wann werden wir dies also auch in den USA sehen?
R.S.: Die USA hinkten der Welt in punkto Medienkompetenz schon immer hinterher. Leute mit paranoiden Fantasien mögen hier Erklärungen anbringen, wieso dies der Fall ist und wer hier die Kontrolle besitzt. Ich weiß es nicht. Für mich ist eine der Zielvorstellungen, dass, wenn man in einer Demokratie lebt, man einen sinnstiftenden Informationsfluss benötigt. Einen bedeutungsvollen Austausch. Dies war seit jeher einer der Grundsätze der Regierung seit der Staatsgründung. Sie können keine florierende Demokratie haben, wenn die Menschen nicht ausreichend informiert sind. Insbesondere wenn man den verzerrenden Einfluss des Fernsehens berücksichtigt, denke ich, dass Medienkompetenz grundlegend für eine informierte Wählerschaft ist, und informierte Geschworene. Und wenn Sie auf Bilder reagieren, weil sie Sie an einen Film erinnern oder sie eine gefühlsmäßige Reaktion hervorrufen, die auf einer Werbung basiert, die Ihnen gefällt, dann steht das nicht im Einklang mit dem Ideal eines abwägenden Diskurses, den wir anstreben sollten.
J.S.: Damit haben Sie einen weiteren Grund angeführt, wieso Medienkompetenz unterstützt werden sollte: sie befähigt Bürger, besser zur Rechtssprechung beizutragen.
R.S.: Das stimmt. Ich denke, dass der Konsum von Informationen der wichtigste Konsumakt ist, den es gibt. Und wenn wir ihn nicht in einer kritischen Art und Weise durchführen, ist unser politisches Schicksal völlig offen – und in Gefahr.
J.S.: Wir stehen am Beginn eines neuen Jahrtausends. Was müssen die Menschen jetzt tun, um zu verhindern, dass aus der Rechtssprechung Popkultur wird?
R.S.: Es hängt direkt mit dem zusammen, was wir gerade über die Kultivierung eines kritischeren Grundhaltung gesagt haben, also Fähigkeiten zu lernen, um das zu interpretieren, was wir sehen. Und natürlich muss der Wille da sein, hinter die bloße Oberfläche der Bilder zu schauen. Eine Sache, die an der postmodernen Ära stimmt, ist, dass es schwieriger wird, zwischen Fiktion und Realität, oder zwischen Fantasie und Realität zu unterscheiden. Bis zu dem Punkt, wo Menschen politische oder juristische Entscheidungen treffen, die keinen Bezug zum realen Leben haben, sondern deren Impuls sie aus dem Fernsehen oder von Filmen ziehen – das ist ein verstörender Gedanke. Einer der Gründe dafür, dass Matrix so ein erfolgreicher Film war, ist vielleicht, weil er diesen Nerv getroffen hat, das wir möglicherweise in einer Welt frei schwebender Bilder leben, und dass es vielleicht egal ist. Wenn es nur Bilder sind, die wir erzeugen und auf die wir reagieren, wenn es nichts weiter gibt, wo man ankommen kann, dann lasst uns einfach diese Reise tun. Es ist wie Quentin Tarantinos Welt in Pulp Fiction: Gewalt ist lustig. Das reale Leben schlussendlich von Unterhaltungswerten abhängig zu machen ist, für meinen Teil, eine erschreckende Sache, wenn es um Politik und Rechtssprechung geht. Im Kino vielleicht nicht, aber in der Politik und Justiz schon. (…)
J.S.: Sie sagen also, dass es irgendwo eine Art von Realität geben muss.
R.S.: Ich behaupte nicht, dass es eine Form von Realität im gewöhnlichen Sinne von beweisbaren objektiven Dingen geben muss. Aber es gibt Bedeutungen und Werte und Glaubenssätze, die wir unterstützen können, auch wenn wir wissen, dass sie konstruiert sind. Sie können einen Film sehen und ihn genießen, in eine Vorlesung gehen und ihn zerpflücken und ihn anschließend noch mehr genießen. Wenn Sie verstehen, wie er erstellt wurde und wie er funktioniert, können Sie ihn am nächsten Tag immer noch sehen und von seiner Kraft verzaubert werden. Irgendwann müssen Sie eine Art von Bedeutung bejahen. Irgendwann. Eine ständige Diät von Desillusionierung nährt einen nicht ausreichend, um ein gutes Leben zu führen. Wir müssen uns klar machen, was unsere Glaubenssätze und Überzeugungen und Werte sind und sie bekräftigen
J.S.: Was würden Sie Kritikern antworten, die sagen: „Nun, Sie sind halt ein Linker, Sie sagen, dass die Gesellschaft auseinanderfällt, dass Rechtssprechung und Medien und Unterhaltung und Realität alle durcheinandergewürfelt werden, aber eigentlich war es schon immer so. Menschen haben sich immer Fiktion und Fantasie zugewendet, um ihr eigenes Leben zu verstehen und zu interpretieren.“
R.S.: Ich denke, das ist richtig. Ich stimme zu. Aber wir müssen die verschiedenen Dinge, die wirken, kennen. Die Frage ist nicht: „Können wir die Fiktion aus unserem Leben tilgen?“. Die wichtigere Frage ist: Welche fiktionalen Interpretationen haben reale Konsequenzen in Politik und Rechtssprechung, wie beeinflussen sie das Leben um uns herum? Wir sollten uns nicht der Selbsttäuschung hingeben, dass es „nur Fiktion“ ist, oder „nur ein Bild“, lasst uns die Reise antreten, weil es so eine tolle Erfahrung ist. Ich bin nicht gegen Stimulierung der Sinne, aber ich möchte nicht, dass das Leben eines Menschen in einem Mordprozess davon abhängt.
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Dazu passt auch der Artikel „The CSI Effect“ in U.S. News & World Report (2005), den ich dann Euren Englischkenntnissen anheim gebe. :-) Er verdeutlich auf jeden Fall noch mal, welch verheerende Wirkung die ganzen gescripteten und inszenierten Crime-Storys im Fernsehen auf die reale Rechtssprechung haben.
(…) Stoked by the technical wizardry they see on the tube, many Americans find themselves disappointed when they encounter the real world of law and order. Jurors increasingly expect forensic evidence in every case, and they expect it to be conclusive.
“Your CSI moment.” Real life and real death are never as clean as CSI’s lead investigator, Gil Grissom, would have us believe. And real forensics is seldom as fast, or as certain, as TV tells us. Too often, authorities say, the science is unproven, the analyses unsound, and the experts unreliable. At a time when the public is demanding CSI -style investigations of even common crimes, many of the nation’s crime labs–underfunded, undercertified, and under attack–simply can’t produce. When a case comes to court, “jurors expect it to be a lot more interesting and a lot more dynamic,” says Barbara LaWall, the county prosecutor in Tucson, Ariz. “It puzzles the heck out of them when it’s not.” (…)