Ich weiß ja nicht, wer sich noch an meine ausführliche Buchbesprechung des Werkes „Anarchie!“ von Horst Stowasser erinnert, in der ich vor über einem Jahr meine Sympathie für die dort geäußerten Gedanken und Ideen zum Ausdruck brachte (wer sich nicht mehr erinnern sollte oder erst jüngst auf meinen Blog gestoßen ist, kann seinem Gedächtnis HIER auf die Sprünge helfen). Auf jeden Fall hatte ich bereits damals darüber sinniert, dass der Begriff „Anarchie“ leider überwiegend negativ konnotiert ist und für viele Menschen primär mit Chaos und Gewalt verbunden ist, also das Gegenteil von Ruhe, Ordnung und einer anstrebenswerten Gesellschaftsordnung darstellt – würde man jetzt rausgehen und spontan einige Leute auf der Straße fragen, würde sich sicherlich ein entsprechend negatives Meinungsbild ergeben (behaupte ich mal einfach so forsch).
Auch in den Medien, zum Beispiel den bekannten Fernseh-Nachrichtensendungen, wird der Begriff „Anarchie“ als Synonym für marodierende Horden benutzt, die erst von der Staatsgewalt wieder „befriedet“ werden müssen, damit der brave Bürger wieder auf die Straße darf. Natürlich haben solche, beispielsweise von Extremisten der verschiedenen Lagern am Rande von Demonstrationen vom Zaume gebrochenen Auseinandersetzungen nichts mit Anarchie im ursprünglichen Sinne, also als Gesellschaftssystem, zu tun.
Dabei geht es bei der Anarchie bzw. dem Anarchismus eben gerade nicht um ein völlig unstrukturiertes, zu Gewaltexzessen und dem Faustrecht neigendes System, sondern vielmehr um ein herrschafts- bzw. hierarchieloses Miteinander, das mehr auf den Zusammenhalt und Solidarität setzt als die Ellenbogengesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt und Eigennutz vor Gemeinsinn und Nachhaltigkeit geht. Allerdings ist Anarchismus nicht wirklich einfach zu verstehen und in der heutigen Zeit auch nicht einfach zu vermitteln – wie gut, dass es das Internet gibt! Denn im Blog Der Mensch, das faszinierende Wesen von Martin Bartonitz fand ich dieses nette „Telekolleg: Anarchie“, in dem versucht wird, einige der Grundprinzipien allgemeinverständlich darzustellen (wie üblich beim aktuellen Trend von YT-Videos zur Welterklärung wird natürlich nicht in die Tiefe gegangen, sondern nur die Oberfläche angekratzt):
Dazu passt auch das Titelthema des nächsten Adbusters-Magazins: „The Politics of Post Anarchism – How To Live Without Dead Time“.
Martin Bartonitz
Hallo Peter,
ja, es ist schon verwunderlich, dass über die Ideen der Hierarchie als alternatives Gesellschaftsmodell gar nicht gesprochen wird und daher die wüstesten Bilder in unseren Köpfen weiter greicht wird.
Ich habe das Buch von Horst Stowasser inzwischen auch fast durch und würde mir wünschen, dass seine Rechercheergebnisse, und Hut ab, da stecken Jahre drin, auch in den Geschichts- oder Philosophieunterreichten genutzt werden.
Ich könnte mir vorstellen, dass das Leben in einer solchen verantwortungsvollen, sozialtragenden Gesellschaft uns richtig gut tu sollte.
Viele Grüße, Martin
A_gi
ich hab das buch noch nicht ganz durch aber es hat jetzt schon mein denken völlig verändert.
ich würde mir ebenfalls wünschen, dass es viel mehr menschen in die hand fällt.
fleaflo
Ich glaube auch, dass man über die Fehlvermittlung des Anarchiebegriffs sprechen sollte, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob Videos wie diese wirklich dazu beitragen.
Ich persönlich kann mit reisserischen/überladenen Medien nicht viel anfangen.
Ich habe oft das Gefühl, dass “Bildung” in die Köpfe gekämpft werden soll. Wäre es nicht angebrachter dabei die audiovisuellen Mittel als minimale Stütze zu verwenden?
Peter M.
@ fleaflo: ja, da hast Du absolut Recht. Lustigerweise hatte ich eh mal vor, demnächst ein wenig etwas über die “Youtubisierung” der “Bildung”/”Aufklärung” zu schreiben, also über die inflationäre Schwemme kleiner Filmchen, die komplexe Zusammenhänge plastisch machen sollen, aber oft genug der Komplexität nicht gerecht werden und nur ein simples Schwarz/Weiß-Bild zeichnen. Von daher ist auch dieser Anarchie-Clip sicher nicht der Weisheit letzter Schluss, das stimmt.
Wasabi
Demokratie wird einfach nicht weit genug gedacht,die Demokratien die wir heute haben sind meistens nur Wirtschaftsdiktaturen verbunden mit einem unglaublich umfangreichem Regelwerk um die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus weitgehend zu unterbinden.
Als ich das “ABC des Anarchismus” gelesen habe,fiel es mir wie Schuppen aus den Augen und ich hielt die Idee des kommunistischen Anarchismus für absolut plausibel und umsetzbar.
“Gemeinwohl-Ökonomie” von Christian Felber holte mich aber wieder auf den Boden:
An der Demokratie per se ist nichts falsch,sie wird einfach nur nicht Konsequent ausgeführt!
“Anarchismus-Freiheit pur” habe ich immer noch nicht gelesen,aber ich werde es mir mal vornehmen.
Masereel
Toller Blog, habe ihn vor ein paar Wochen entdeckt und schaue jetzt öfter mal vorbei! Alles Gute weiterhin!
Zum Artikel, das Video hat mich echt enttäuscht.
Rein filmisch mag ich Matrix und V for Vendetta zwar, aber beide transportieren auch diese Idee einer Avantgarde, die zwar auch in einigen anarchistischen Texten/Personen Ausdruck fand/findet; aber es transportiert auch ein sehr elitäres Selbstbild, wenn Anarchist_innen sich als Teil einer ‘aufgeklärten’ ‘Avantgarde’ verstehen. Ich habe leider einige getroffen, die davon so überzeugt waren/sind, dass sie mit anderen (vor allem Menschen, denen die anarchistische Denke komplett fremd ist und die es ihrer Ansicht nach nicht schnell genug ‘checken’) nicht konstruktiv und respektvoll reden können, und damit der Idee an sich mehr schaden als gut tun. In dem Zusammenhang sind die Che T-shirts vielleicht keine Überraschung, aber ähnlich fehl am Platz (mMn). Ebenso gut hätte man Hugo Chavez oder Lenin zeigen können. Wieso sich anarchistisch geprägte Aktivist_innen nach 1917-1921 und 1936-1939 immer noch nicht stärker von marxistischen Pop-Ikonen distanzieren, bleibt mir ein Rätsel. Der Bruch in der Internationale 1871 kam nicht von ungefähr und hat sich im Nachhinein jedesmal bewahrheitet. Bis dato ist Demokratie das einzige System, in dem Anarchist_innen nicht automatisch von der Wand in die Totengrube befördert werden.
*räusper* man könnte es ja auch selber machen, point taken, guilty as charged ;)) In dem Sinne, hoffe ich, mein Kommentar kommt nicht böse/belehrend rüber, so ist’s nicht gedacht. Senf ist immer diskutabel :)
Es wäre toll, gäbe es eine deutsche Version etwa des Gesprächs von Chomsky zu Anarchismus:
http://www.youtube.com/watch?v=pW7nnLNANtQ
Ist zwar auch gut 40-50 Minuten lang, aber er bringt ziemlich vieles auf den Punkt und verschafft einen guten Einstieg/Überblick, ohne Ablenkung durch Bilder oder Slogans.
Oder der Anarchist FAQ vom Infoshop:
http://infoshop.org/page/AnAnarchistFAQ
wobei das DadaWeb eine sehr reiche deutsch-sprachige Ressource ist:
http://www.dadaweb.de
Nehme aber an, das Buch von Stohwasser kommt dem FAQ wohl sehr nahe. Habe es (noch) nicht gelesen (mein Einstieg waren vor Jahren ‘Unter der schwarzen Fahne’ von Justus Wittkop und ‘Der kurze Sommer der Anarchie’ von Enzensberger, gefolgt von Guérins Anthologie).
Ich sehe es ähnlich wie Wasabi; meine Hoffnung ist, dass ein konsequentes Eintreten für echte Demokratie und Menschenrechte uns ein Stück weiterbringen.
Peter M.
@ Maserell: Danke für Deinen ausführlichen Kommentar und die Links (waren mir bisher noch nicht bekannt)! Deine Kritik an dem Videoclip kann ich nachvollziehen, ich sehe solch kurzen Statements ja auch oft skeptisch. Aber dennoch ist es vielleicht mal ein Ansatzpunkt für den einen oder anderen, sich mit dem Anarchismus zu beschäftigen und vor allem nicht das Geschwafel von “Chaos & Anarchie” aus den Medien zu goutieren, das im Zusammenhang mit Revolten und Bürgerkriegen so gerne abgesondert wird.