Langjährige Leser meines Blogs – und/oder diejenigen, die das Buch „Culture Jamming“ von Kalle Lasn gelesen haben – wissen, dass das Thema Verödung/Veränderung der Stadt durch Reklame und Kommerz einem unumgänglich begegnet, wenn man sich mit Konsumkritik und der kritischen Hinterfragung der Entwicklung des öffentlichen Raumes beschäftigt. So habe ich auch schon früher beklagt, dass die pestilenzartige Ausbreitung der großen Handelsketten, bei gleichzeitiger Verdrängung gewachsener Strukturen und individueller Angebote, zu einer Monoformisierung der (Innen-)Städte führt die langweilig ist und zu einer weiteren Marktmachtkonzentration führt. Zum anderen, und das ist vielleicht noch gefährlicher, wird immer mehr öffentlicher Raum privatisiert und damit einer demokratischen Gestaltung entzogen. In Einkaufszentren herrschen die Regeln der Betreiber, so dass Proteste oder kritische Äußerungen unerwünscht oder sogar verboten sind und aus solchen Malls verdrängt werden. Siehe dazu auch meinen Beitrag „Die Stadt in der Stadt – Wie Einkaufszentren Innenstädte zerstören“.

Nun bin ich bei Aufräumarbeiten in meiner Wohnung auf einen Artikel aus der ZEIT gestoßen, den ich bereits 1996, also lange vor meiner aktiven Bloggerzeit, für bemerkenswert fand und der (leider) auch heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat; ja, es ist zum Teil vielleicht noch krasser geworden, als Ulrich Greiner es damals in seinem Beitrag „Total vergnügt“ bereits andeutet. Der Text ist ziemlich lang, deshalb will ich ihn heute als eigenständigen Lesetipp vorstellen – die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall! Die „Gesellschaft des Spektakels“ und die „Eventisierung“ des Lebens spiegeln sich in seinem Artikel wider, und obwohl der Autor die Entwicklungen nicht grundsätzlich negativ sieht (vor allem im ersten Teil des Artikels arbeitet er einige aus seiner Sicht positive Punkte heraus), erkennt er doch auch die darin lauernden Gefahren.

(…) Mein Beruf bringt es mit sich, daß ich häufiger am Sonntag mein Büro in der Innenstadt aufsuchen muß. Immer wieder bin ich erstaunt darüber, daß die Stadt keineswegs leer ist. Scharenweise flanieren die Menschen durch die Straßen, drücken sich die Nasen an den Schaufenstern platt, bevölkern die Passagen und die Cafés. Was suchen diese Menschen bloß? frage ich mich. Haben wir es hier mit einer Variante des deutschen Masochismus zu tun, mit einer bizarren Mischung aus Konsumismus und Selbstbestrafung, die sich darin ausdrückt, daß man an geschlossenen Läden vorbeigeht, Wünsche hegend, von denen man weiß, daß ihre Erfüllung versagt bleiben muß? Diese sonntägliche Stadtwanderung verrät eine stille und nachhaltige Sehnsucht, Stadt zu erleben, und zwar ohne den Zwang des Konsums und ohne den Blick auf die Uhr und den Ladenschluß. (…)

(…) Es läßt sich also beobachten, daß die Stadt eine gewisse Anziehungskraft wiedergewonnen hat. Aber so wie die Stadt monofunktional wird, zu einem Vergnügungsort wird, so wird sie auch monosozial. Es läßt sich nämlich schon seit langem eine schleichende soziale Entflechtung feststellen, am deutlichsten abzulesen an den Wohnungsmieten, die zur Folge hat, daß die Besiedelung der Stadtquartiere nach Einkommensklassen geordnet ist.

Für unseren Begriff von Stadtkultur hat das eine weitreichende Bedeutung. Wenn wir Stadtkultur nicht nur als eine weitere Bindestrich-Kultur verstehen wollen, sondern als etwas Umfassendes, als den Ausdruck aller Lebensformen und aller sozialen Schichten, dann ist diese Ausgliederung ein gefährlicher Prozeß. Denn Stadtkultur besteht ja nicht nur aus Architektur, aus Museen und Theatern, sondern sie ist ein sich ständig verändernder Lebenszusammenhang, an dem alle Stadtbewohner Anteil haben, nicht nur die in der Mitte. Eine exklusive Stadtkultur wäre keine. (…)

(…) Wenn die Stadt nur noch einer der Vergnügungspunkte auf der Transit-Strecke des kosmopolitischen Flaneurs ist, dann verliert sie ihre Basis und Eigenart. In der Tat läßt sich eine gewisse Konformität nicht übersehen: Überall Hennes & Mauritz und “Cats” und Carpaccio vom Lachs, überall Benetton und “Phantom der Oper” und Warsteiner vom Faß. Stadtkultur aber geht nicht ohne den besonderen Geruch des Ortes, der aufsteigt aus seinen Gebäuden und Plätzen, und sie geht nicht ohne die Menschen, die diesen Geruch wiedererkennen, weil er schon von ihren Müttern und Großvätern eingeatmet wurde.

Sie geht nicht ohne die Teilhabe derer, die die Straßen kehren und die Kanäle reinigen, nicht ohne die große Zahl der sogenannten kleinen Angestellten, weil nur sie als Ortsansässige jene Erinnerung und Solidarität aufbringen, ohne die eine Stadt nicht gedeiht.

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