Neustart Schweiz – die Nachbarschaft neu erfunden

Während die „Occupy Wall Street“-Bewegung ja nun weltweit langsam an Anhängern gewinnt und die Proteste gegen das herrschende (Finanz-)System selbst in Deutschland anzuschwellen beginnen, stellt sich natürlich immer die Frage, WOFÜR die Demonstranten nun eigentlich auf die Straße gehen und ob eine Revolution, wie sie manche gerne sehen würden, also das sofortige Stürzen der jetzigen Struturen, wirklich etwas bringen würde, außer Chaos und Gewalt. Das Problem, das ich sehe, ist nicht zuletzt, dass es derzeit keine wirkliche konkrete Vision/Alternative gibt, die man umsetzen könnte, wenn nun plötzlich eine Revolution losbräche. Deshalb finde ich es neben dem natürlich mehr als angebrachten und sinnvollen Protesten auch extrem wichtig, tragfähige alternative Strukturen zu entwickeln, für eine „Zeit danach“. In der Schweiz wird unter dem Titel „Neustart“ seit einer Weile ein neues Nachbarschaftsmodell entwickelt, wie Michaela Brötz in der letzten Ausgabe von Der Knauserer zu berichten weiß – eine hochspannende Vision, wie ich finde:

Projekt Neustart – die Nachbarschaft neu erfunden

Die Zukunft braucht neue Ideen und neue Konzepte. Die alten Formen des Zusammenlebens haben dem Sturmlauf des Konsumismus nicht immer standgehalten und so ist es notwendig an Neues zu denken. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Idee von Neustart – einer Neustart-Nachbarschaft, die weit über die bisherige Nachbarschaftshilfe hinausgeht, das intensive Zusammenleben von Ökogemeinschaften vermeidet. Lest aber selber: (mehr auf: http://neustartschweiz.ch)

Die Herausforderungen der Zukunft – Peak Oil, Klimawandel, ökonomische Krisen, verschwindende Lohnarbeit, Verknappung von Kulturland, Wasser und anderen Ressourcen – erfordern eine komplett neue Lebensweise. Unser Leben muss lokaler, synergetischer, gemeinschaftlicher werden. Wenn wir in eng vernetzten Nachbarschaften von etwa 500 BewohnerInnen zusammen haushalten, ist eine Ressourcen schonende Lebensweise ohne Verlust an Lebensqualität möglich. Der Zusammenschluss innerhalb von Quartieren macht überdies viele Dienstleistungen und Einrichtungen auch für Menschen mit kleinem Einkommen erschwinglich.

Eine typische Neustart-Nachbarschaft hat eine eigene Versorgung mit in der näheren Umgebung erzeugten Lebensmitteln, ein großes Lebensmitteldepot (Lebensmittel zum Entstehungspreis – oder fast gratis, wenn das Land der Nachbarschaft selbst gehört), eine Großküche, Restaurants (mit Take-Away), Bars, Bibliothek, Secondhand-Depot, Reparaturservice, Wäscherei, Gästehaus,
Bad, Geräteverleih, Kinderparadies usw. All dies ist natürlich nur machbar und bezahlbar, wenn alle Nachbarn eine gewisse Zahl von Freiwilligen-Einsatz (z.B. drei Stunden pro Monat) leisten. Sie sparen dafür ein Mehrfaches an privater Hausarbeit, haben vielfältige soziale Kontakte und leben günstiger. Zugleich schaffen sie eine Lebensweise, die weniger abhängig ist von wirtschaftlichen Schwankungen, keinem «Wachstumszwang» unterliegt und global nachhaltig ist. Selbstverständlich sehen Nachbarschaften überall wieder anders aus, je nach Siedlungsstruktur, kulturellen Vorlieben, vorhandenen Ressourcen. Die Vielfalt macht ihre Stärke und Krisenfestigkeit aus.

Unsere Stadtquartiere und Landregionen müssen so zu Basisgemeinden umgestaltet werden, dass sie alle alltäglichen Güter und Dienstleistungen in Fuß- oder Velodistanz anbieten können. Nur so lässt sich eine erzwungene Mobilität reduzieren, die viel Energie verschlingt und erst noch keinen Spass macht. Quartiere und Landstädte sollen vielfältige Zentren haben, die einen erweiterten Service Public zu erbringen vermögen.
Lebenswichtige Industrien und Dienstleistungsbetriebe müssen aus der erstickenden Umarmung durch die profitorientierte Wirtschaft befreit und auf eine öffentliche und/oder genossenschaftliche Basis gestellt werden. Schon aus ökologischen Gründen müssen demokratische Planungsmechanismen eingerichtet werden, die im Dialog zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen funktionieren. Wir können uns die Verschwendungen der Marktmisswirtschaft ganz einfach nicht mehr leisten.

Der Verein Neustart Schweiz fördert den Wandel auf der Basis von solchen Nachbarschaften mit fachlicher Beratung, gezielter Unterstützung, Forschung und Bildung, Vernetzung und der Schaffung von günstigen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen.

Die genauen Ideen seht ihr noch besser auf: http://neustartschweiz.ch/de/inhalt/lebenswerter-leben ausformuliert.
Besonders interessant ist, dass Neustart sich an die Städter wenden, um dort die brachliegende Nachbarschaftshilfe zu reformieren und sich gemeinsam mit einem Stück Land wieder zu “erden”. Nachlesen auch hier, das die neuen Ideen in eine breitere Vision stellt. http://neustartschweiz.ch/de/blog/die-schweiz-braucht-einen-neustart
Es gibt sogar ein Buch zur Idee, in dem man auch online blättern kann: http://neustartschweiz.ch/de/inhalt/buch-neustart-schweiz

Zum Schluss möchte ich noch die Maßnahmen aufgreifen, die Neustart.ch jedem vorschlägt, um auch wirklich einen gelungen Neustart hinzulegen. Vielleicht eine Anregung für alle, auch wenn sie sich nicht in dem Sinne vernetzen wollen oder können:

Bei sich selbst beginnen

  • auf den Kauf der neuen (energieeffizienten, hybriden) Autos verzichten, da es so etwas wie ein ökologisch nachhaltiges Auto gar nicht gibt – ein Elektroauto ist gleichzeitig ein nukleares Auto oder ein mit Kohle betriebenes Auto
  • Lebens- und Arbeitsräume auf Fuß- oder Fahrraddistanz zusammen legen
  • anstatt das Umland mit Eigenheimen zu zersiedeln, lieber in städtische Gemeinschaften zusammenleben
  • auf ökologische Produkte, Standards und Dienstleistungen bestehen
  • sich mit Landwirten verbinden, Einkaufszentren und Großverteiler meiden
  • saisonal essen, weniger dafür bewusster arbeiten, langsam reisen
  • weniger kommerziell konsumieren, mehr gemeinschaftlich teilen und gemeinsam etwas unternehmen
  • Güter nicht horten, sondern andere daran teilhaben lassen

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3 Kommentare

  1. Ein fantastischer Artikel, vielen Dank dafür! Ich denke auch, dass es genau das ist was die Menschen brauchen: kleinere Strukturen und gemeinsames Wirken.
    Ich bin absolut überzeugt, dass die momentane Gesellschaftsform seit länger schon genau das Gegenteil bewirken soll: die Menschen sollen sich immer mehr auseinander leben und voneinander entfremden, um von den gegebenen Strukturen/Konzernen vollkommen abhängig zu sein(z.B. die “Zerstörung” der Familien, immer mehr Singlehaushalte oder beide Eltern gehen den ganzen Tag arbeiten, somit bleibt nicht mal mehr Zeit fürs gemeinsames Kochen von gesunden Speisen und man ist auf Fertigprodukte angewiesen usw.).

    Dein Blog ist so unglaublich gut, bin immer wieder begeistert! :-)(das musste jetzt mal gesagt werden)

  2. 000000

    Amató

    Stimme dir voll und ganz zu!

    Nur eines haben die „Oberen“ vergessen. Ohne funktionierendes Sozialgefüge (Familie&Co.) bleibt das Sozialgewissen/–wesen auf der Strecke.

    Ellenbogengesellschaften, jeder ist sich selbst der Nächste, ehrgeizige Emporkömmlinge, Korruption, Machtkämpfe usw. sind die Folge.

    Wo kein Miteinander vorhanden ist, wird Gegeneinander gearbeitet und das geht zu Lasten der angestrebten Ziele. Was zuerst lohnend für den Einzelnen aussieht, stellt sich im Nachhinein als Hemmschuh heraus.

    Kurzfristig angedachte Politik mit langfristigen negativen Folgen!

  3. arne

    ist doch so ähnlich, wie das bolo bolo prinzip, oder?

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