Aug
03
2010
2

Lesetipps: Die Alten werden vom Fernsehen betäubt und vom Volk bezahlte Verblödung

Über das Fernsehen, vor allem das private Kommerzgedudel, lässt sich ja viel Kritisches sagen und schreiben. Dass es viele Menschen sediert und eigene Aktivitäten lahmlegt, ist auch nichts Neues, schließlich ist das „Abschaltenwollen“ mit Hilfe des Flimmerkastens für viele Normalität. Waren es früher die Kinder, deren TV-bestimmtes Freizeitverhalten in die Kritik geriet, sind es nun auch die älteren Menschen, für die passives Fernsehen zum Lebensinhalt geworden ist, wie Heise zu berichten weiß – „Die Alten werden vom Fernsehen betäubt“:

Das Problem ist wohl nicht nur, dass die Menschen zu früh zu Fernsehsüchtigen erzogen werden, sondern dass die Sucht mit dem Alter steigt

Gewarnt wird gerne davor, dass Kinder und Jugendliche zu lange vor der Glotze sitzen und dabei lethargisch und aufmerksamkeitsgestört werden. Gerade erst wurde wieder bestätigt, dass exzessives Computerspielen ebenso wie häufiger Fernsehkonsum bei Kindern die Konzentrationsfähigkeit zu mindern und die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen scheint, allgemein an Aufmerksamkeitsstörungen zu leiden. Computerspiele und Fernsehkonsum könnten so eine der Ursache für die Ausbildung der Aufmerksamkeitsstörung ADHD bei Kindern sein (s.a. Fernsehkonsum von Kleinkindern soll anhaltend das Verhalten prägen).

Dabei wird aber symptomatisch die allseits bekante Tatsache übersehen, dass die Jungen nicht diejenigen sind, die am meisten fernsehen, sondern dass die älteren und alten Menschen zunehmend mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Probleme scheint man damit wenig zu haben, da es sich ja um alte Menschen handelt, von denen nichts mehr erwartet wird und die mit Fernsehen auch still gestellt werden können. […]

[…] In allen Altersgruppen steht Fernsehen ganz vorne, man muss sich wirklich fragen, ob unsere Gesellschaften, die gerade erst einmal seit wenig mehr als einem halben Jahrhundert unter die TV-Medienglocke getaucht ist, ein Leben ohne Fernsehkonsum unbeschadet durchstehen könnten. Und die älteren? Sie sind zunehmend gesellschaftlich abgeschaltet und werden gehalten wie Vieh im Käfig, das mit inszenierter Unterhaltung und bewegten Bildern in den Tod geführt wird, weil eine Tötung gegen die guten Sitten verstößt. Das Non-Stopp-Fernsehen ist der kleine und indirekte Tod.

Neben der mehr als nur berechtigten Kritik am komplett durchommerzialisierten Bunt-Klimbim-Programm der Privatsender begleitet auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten stets der Vorwurf, die von den Bürgern zwangserhobenen Gelder sinn- und nutzlos zu verpulvern und nur noch, wie die Privaten, auf die Quote zu schauen. Jens Jessen geht in der ZEIT in „Öffentlich-rechtliche Sender: Vom Volk bezahlte Verblödung“ mit diesen Zuständen hart ins Gericht, wobei ich anmerken möchte, dass diese Sender immerhin ab und zu mal etwas Kritisches oder Gehaltvolles bringen, wenn natürlich auch viel zu viel televisionärer Quark unters Volk gebracht wird…:

[…] Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland scheint es gut zu gehen. Er expandiert gegen alle Widerstände ins Internet. Er hat ein Gesetz ertrotzt, das es erlaubt, die Rundfunkgebühr in jedem Haushalt zu erheben, unabhängig davon, ob dort Empfangsgeräte existieren. Die politischen und juristischen Siege verschärfen indes auch die Legitimationskrise eines Systems, das in Wahrheit nur noch wenig von dem liefert, was seine Finanzierung durch Zwangsgebühren rechtfertigen könnte.

Diese Legitimationskrise ist nicht heute und nicht gestern entstanden – und erst recht nicht durch das Internet. Wenn es eine Ursache gibt, dann liegt sie in der Konkurrenz der privaten Sender, die den Quotendruck hergestellt hat, der als Mutter aller Missstände gelten kann. Wann immer eine gute Sendung aus dem Programm genommen wird, heißt es: Die Quote war schlecht, und wann immer eine schlechte Sendung im Programm gehalten wird: Die Quote war gut. Über Qualität und Angebot von Sendungen nach der Zuschauerquote zu urteilen bedeutet aber für die öffentlich-rechtlichen Sender, dass sie sich wie reine Wirtschaftsunternehmen verhalten, das heißt nach Maßgabe der Produktverkäuflichkeit, ohne Blick auf eine weitergehende Verantwortlichkeit. Warum sollen Sender, die sich wie Privatakteure auf dem Markt verhalten, eine Gebühr bekommen, die sie von der Rücksicht auf den Markt befreit? Dies ist die Legitimationskrise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Er wird für eine Freiheit bezahlt, die er nicht nutzt. […]

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Jul
27
2010
1

Fernsehtipp: Gift – Unser tägliches Risiko – Arte ab 20:15 Uhr

Heute gibt es auf Arte mal wieder einen interessanten Themenabend, der sich mit den Folgen und Nebenprodukten unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft sowie dem Hang und Drang zu möglichst billiger Güterproduktion beschäftigt: dem Gift, das viele der Produkte, die wir jeden Tag benutzen, innewohnt. Dürfte sich lohnen! Von 21:30–22:00 Uhr zeigt der Sender dann auch noch mal eine Sendung über Prof. Braungarts Cradle-to-Cradle-Prinzip.

Gift – Unser tägliches Risiko
Täglich werden die Verbraucher mit einer Vielzahl von Giften konfrontiert, sei es in Lebensmitteln, in Textilien, in Spielzeug oder Möbeln. Trotz aller Verbote, Grenzwerte und Kontrollen gibt es keinen ausreichenden Schutz, denn immer neue Giftstoffe gelangen auf den Markt, deren Nachweis immer schwieriger wird. Der Themenabend zeigt zum einen die Gefährlichkeit gebräuchlicher Giftstoffe auf, präsentiert zum anderen aber auch Möglichkeiten, ein Leben ohne Gifte zu führen

Dienstag, 27. Juli 2010 ab 20.15 Uhr

20:15 Uhr: „Schick, aber schädlich“ – Immer wieder finden sich Spuren gesundheitsschädlicher Stoffe in Kleidung und Schuhen. Von Kopf bis Fuß ist man von giftigen Substanzen umgeben. Die Ursachen liegen im globalen Handel, im enormen Preisdruck und einer Modewelt, die sich jeder staatlichen Kontrolle entzieht. Die Dokumentation ist den Spuren der Gifte gefolgt.

21:00 Uhr: „Hauptsache haltbar“ – Weltweit kann der Verbraucher überall die gleichen Produkte kaufen, lange haltbar, weil luftdicht verpackt. Doch diese Verpackungen haben es in sich: das Gift, das in die umhüllten Lebensmittel eindringt und zu schwerwiegenden Erkrankungen führen kann. Die europäischen Kontrolleinrichtungen scheinen machtlos dagegen zu sein. Die Dokumentation deckt die Hintergründe für mangelnde Kontrollen, Lobbyismus in Brüssel und nicht funktionierenden Verbraucherschutz auf.

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Jul
04
2010
9

Grimme-Online-Award für fernsehkritik.tv und RTL-Kritik live bei RTL

Fernsehen lohnt sich normalerweise nicht. Eigentlich. Und doch haben all die schwachmatigen Sendungen, die Krawall- und Castingshows, Telenovelas und Dokusoaps im Privatfernsehen wie auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern tatsächlich auch etwas Gutes – denn ohne sie gäbe es den ausgesprochen unterhaltsamen Videopodcast fernsehkritik.tv nicht. Seitdem ich fernsehkritik.tv vor vielen Monaten entdeckte, verfolge ich die zwei Mal im Monat erscheindenden, meist so ca. 30-40 minütigen Beiträge mit großer Begeisterung, denn Holger Kreymeier betreibt das, was seit dem Ende von Kalkofes Mattscheibe in den Medien sträflich vernachlässigt wird: schonungsloses und fundiertes Sezieren des Mülls, der da tagtäglich auf die Bevölkerung losgelassen wird. Anders als Kalkofe geht fernsehkritik.tv aber nicht comedymäßig vor und persifliert die handelnden Personen nicht, sondern arbeitet die Schwachpunkte und bedenklichen Entwicklungen im Fernsehen durchaus sachlich, aber dennoch emotional heraus. Diese Arbeit zahlt sich nun aus, denn fernsehkritik.tv erhielt diese Woche den Grimme Online Award – ich gratuliere! Ein paar Impressionen von der Verleihung gibt es hier.

In seinem Blog dokumentiert Holger auch, was sonst so rund um den Fernsehwahn passiert. So berichtete er in „RTL-Kritik live bei RTL“ von der schönen Aktion zweier Leute, die sich bei einer der Live-Shows von der Fußball-WM, die RTL durchgeführt hat, in die Menschenmenge schmuggelten und dann ein großes Plakat in die Kamera hielten, das RTLs bekanntermaßen niveauloses Programm passend kommentierte, so dass es die Zuschauer an den Bildschirmen direkt sehen konnten. Sehr schön!

[…] Um überhaupt soweit zu kommen, hatten sich die Demonstranten vorher sehr genau überlegt, wie sie vorgehen. Sie bedruckten die Rückseite des Plakats mit der unverdächtigen Flagge Kameruns und schminkten sich selbst schwarz – was auch funktionierte: Die RTL-Security ließ sie aufs Gelände. Die Aufnahmeleitung des Senders sprach die vermeintlichen Kamerun-Fans sogar noch an und bat sie, ein kurzes Statement in der TV-Box abzugeben. Kein Wunder: Anhänger Kameruns waren hier natürlich deutlich weniger zu finden als Fans der Niederlande. Schließlich platzierten die Jungs sich unmittelbar vor der Bühne – und waren mit ihrer Medienkritik live bei RTL. Ist das nicht herrlich?

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Jun
28
2010
1

In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich? 2/2

Heute Teil 2 meiner Betrachtung aktueller gesellschaftlicher Entwicklung, die in den Medien nachgezeichnet wird. (HIER Teil 1) Das im ersten Teil angesprochene Gefühl der zeitlichen Verdichtung und des permanenten Informiertseinmüssens wird durch Web 2.0, durch Dienste wie Twitter, Facebook & Co. natürlich noch zusätzlich befeuert – dies ist auch Thema der Serie „Digitales Denken – wie verändert uns das Internet?“ der FAZ. Geert Lovink wirft in „Was uns wirklich krank macht“ einen kritischen Blick auf die sog. oder vermeintliche „Informationsüberflutung“ und den Aufmerksamkeitsdruck:

[…] Flexibilität in der Netzökonomie hat zu einer Fragmentierung der Arbeit geführt, zu befristeter Zeitarbeit. Uns allen ist diese Fragmentierung der Arbeitszeit bekannt. „Psychopathische Störungen“, schreibt Berardi, „treten heutzutage immer klarer als soziale Epidemie auf, genauer als soziokommunikative Epidemie.Wer überleben will, muss konkurrenzfähig sein, und wer konkurrenzfähig sein will, muss vernetzt sein, eine riesige und ständig wachsende Datenflut aufnehmen und verarbeiten. Das führt zu permanentem Aufmerksamkeitsstress, für Affektivität bleibt immer weniger Zeit.“ Um fit zu bleiben, greifen die Leute zu Prozac, Viagra, Kokain, Ritalin und anderen Drogen. Wenn wir diese Analyse auf das Internet übertragen, sehen wir die beiden Bewegungen – die Erweiterung der Speicherkapazität und die Verdichtung von Zeit –, die Computerarbeit so stressig machen. Daraus resultiert das Chaos unserer Zeit. Chaos ist, wenn sich die Welt so schnell dreht, dass wir nicht mehr hinterherkommen. […]

[…] Die Älteren, ob konservativ oder liberal, glauben an das Prinzip der freien Entscheidung, doch für die junge Generation X, im „kapitalistischen Realismus“ aufgewachsen, gilt das nicht mehr. Berardi: „Nicht die Technologie ist das Problem. Damit müssen wir leben. Problematisch ist die Kombination von Informationsstress und Konkurrenz. Im Marktwettbewerb müssen wir stets die Ersten und Besten sein. Was wirklich krank macht, ist nicht die Informationsüberflutung, sondern der neoliberale Druck mit seinen unmöglichen Arbeitsbedingungen.“ […]

Zu diesem Gesellschaftsbild passen natürlich auch die Casting-Shows, die bei vielen Menschen die Illusion erzeugen, man könne es auch heutzutage noch vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen – statt etwas zu können, muss man eigentlich nur als medialer „Star“, als VIP Liebling der Massen werden und hat dann seine paar Monate Ruhm. Dafür lassen sich Kandidaten demütigen und vorführen, und Millionen von Fernsehzuschauern sehen sich dieses televisonäre Äquivalent zu Erbrochenem auch noch Woche für Woche an. Kinder, die ihre Geburtstage bei McDoof feiern, werden natürlich schon mal bestens geschmacklich vorformatiert, um solche Sendungen später im jugendlichen und Erwachsenenalter dann als „gute Unterhaltung“ zu empfinden und für gesellschaftlich relevant zu halten. Besonders übel finde ich ja bekanntlich Germany’s Next Topmodel, eine kommerzdurchtränkte Prostitutionsshow, in der sich junge Frauen an die Reklameindustrie verkaufen. Elisabeth Raether und Matthias Kalle beleuchten in ihrem sehr guten und ungewöhnlich ausführlichen Artikel die Schattenseiten des schönen Scheins und zeigen, wie verlogen und undurchsichtig es in der Pro7- und Heidi-Klum-Plastikwelt zugeht – „Ware Schönheit“:

[…] Der Sender braucht sie für die Welt, die er sich selbst geschaffen hat: Es gibt die Shows wie Germany’s next Topmodel , in denen junge Mädchen bekannt gemacht werden, und es gibt Boulevardsendungen, in denen diese jungen Mädchen dann als Prominente auftauchen – prominent, weil der Sender es entschieden hat, weil der Sender für eine Öffentlichkeit sorgen kann, die seine eigenen Produkte feiert. Ein Kreislauf, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. […]

[…] Germany’s next Topmodel gibt vor, einen Traum erfüllen zu können, den Traum vom Topmodel. Aber keine, die ProSieben bisher zu “Germany’s next Topmodel” gekürt hat, ist heute Topmodel. Die Gewinnerinnen sind ProSieben-Gesichter, Markenbotschafterinnen des Senders und der Show geworden. […]

[…] Das Fernsehen selbst suggeriert jungen Menschen ständig, sie könnten Protagonisten der Unterhaltungsbranche sein, wichtige Akteure mit Einfluss. Aber die Stars sind nicht die Teilnehmer, der Star ist die Show – jene Maschine, die den Kreislauf in Gang setzt, der große Motor des sich selbst speisenden Prinzips. […]

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Mai
14
2010
3

Blechen für Werbung?

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© adamsphoto, stock.xchng

Immer wenn man meint, man hätte schon alles an medialer Absurdität erlebt, kommt doch aus irgendeiner Ecke eine Idee, die einen neuen Tiefpunkt setzt. Ganz aktuell bemüht sich die Reklameindustrie darum, die Ergüsse der mal mehr, mal weniger Kreativen, die irgendein Produkt anpreisen oder einen Großkonzern grünwaschen, als wertvollen Content zu vermarkten und deshalb auch Gebühren von den Bügern dafür zu verlangen. Nein, das ist kein Scherz – nicht nur, dass der Werbe- und Marketingklimbim den Menschen ohnehin schon auf den Wecker fällt und alle Lebensbereiche gnadenlos durchzieht. Nun sollen wir tatsächlich, analog zu den Urheberrechtsabgaben, die von Sendern für PCs etc. angedacht sind, pauschal eine Abgabe für die tollen Erzeugnisse der Reklamefritzen löhnen. Hut ab, das ist wirklich mal kreativ, auf so eine dreiste Idee muss man erst einmal kommen… Das Fachhandelsmagazin IT-Business schreibt dazu in „Volkssport Urheberrechtsabgabe: Jetzt wollen Werbefilmer kassieren“:

[…] Stellen Sie sich vor: jemand schmeißt Ihnen ungefragt etwas in den Garten, deklariert es zur Kunst und verlangt von Ihnen als Gartenbesitzer dann quasi Eintrittsgeld – Sie finden das verrückt? Andere nennen es ein deutsches Geschäftsmodell. Das erste positive Urteil dazu ist bereits ergangen. […]

[…] muss deshalb jeder Besitzer eines PCs oder eines Festplattenrekorders dafür zahlen? Und ist es nicht pervers, dass auf der einen Seite die TV-Sender mit CI+ versuchen, die TV-Aufzeichnungen so zu reglementieren, dass die Werbeblöcke nicht übersprungen werden können, auf der anderen Seite dann genau damit eine Vergütungspflicht begründet wird? […]

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Mai
10
2010
1

Was ist mit Werbung nicht in Ordnung? (What’s wrong with advertising?) Teil 2: Eindringen/Einmischung

Heute setze ich endlich meine Übersetzung der Texte von Prof. Hugh Rank von der Governors State University in Illinois fort, in denen es um Persuasion Analysis, und darin speziell um Werbung geht. Teil 1 war ein Übersichtsartikel, der die vielen möglichen Kritikpunkte an Werbung auflistete. Im heutigen Artikel geht es um den ersten Punkt – „Eindringen/Einmischung („… zu viele Anzeigen“)“.


Was ist mit Werbung nicht in Ordnung?
Eindringen/Einmischung

Viele Menschen beklagen sich über das nervige Eindringen von Werbung in „ihre Zeit“, weil Anzeigen permanent ihr Fernsehprogramm unterbrechen: „zu viel, zu oft, zu viel Reklame“.

„Das wachsende Eindringen von Marketing und Werbung hat zu einem übersättigten Markt geführt und hebt den Widerstand der Konsumenten auf ein Allzeit-Hoch…“ (Yankelovich Report, April 2004)


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© O. Fischer, pixelio

Typische Kommentare von Studenten über die Zudringlichkeit von (TV-)Werbespots:

„… zu viele Spots… sie unterbrechen das Spiel… wiederholen sich zu sehr… Sie spielen die selben Werbeclips immer wieder und wieder… Man kann ein gutes Fernsehprogramm nicht genießen, wenn man andauernd unterbrochen wird… Werbung nervt einen die ganze Zeit… Werbung nimmt zu viel Platz ein… Reklame nimmt zu viel Zeit innerhalb eines Programms in Anspruch… Ich habe Kabelfernsehen, um Werbung zu vermeiden, aber sie ist immer noch da… zu lang… sie unterbrechen das Programm immer an den interessanten Stellen… gerade wenn der Film spanennd wird… Werbung ist zu laut… die selben Spots werden so oft wiederholt, bis man sie nicht mehr ertragen kann… ein Großteil meiner E-Mails besteht aus Spam… Firmen geben zu viel Geld für Werbung aus… Ich hasse diese langen Infomercials… Werbung ist überall… Es werden so viele Werbespots hintereinander gebracht, dass man vergisst, worum es in der Sendung überhaupt ging… Radiowerbung ist langweilig, wenn ich darauf warte, Musik zu hören… Übersättigung… Ich fühle mich von Werbung überschwemmt… Eindringen in mein Privatleben… Sie ist überall…“


Viele dieser Klagen sind naiv, egozentrisch und fußen auf Ignoranz, auf einem fehlenden Verständnis dafür, dass:

– Kommerzfernsehen der Hauptmarktplatz unserer Gesellschaft ist.
– Fernsehprogramme hauptsächlich deshalb existieren, um Werbetreibenden ein Publikum zu bieten.
– „Wer die Band bezahlt, bestimmt die Musik.“


Verstopfung/Zumüllung

Auch Werbetreibende machen sich Sorgen über „zu viele Anzeigen“. Aber sie befürchten eher, dass ihre Werbung, ihr Produkt, in der Verstopfung durch all die anderen Anzeigen untergeht. Vor dem Amtsantritt von Ronald Reagan gab es eine Verordnung, die die maximal zulässige Sendezeit von Werbung begrenzte. Dann wurden diese Beschränkungen aufgehoben. Heutzutage können Fernsehstationen so viel Werbung senden wie sie wollen, beschränkt nur durch die Gefahr, ihre Zuschauer zu verlieren.

Deshalb hat bis zum Jahr 2000 die Sendezeit für Werbung auf inzwischen 13 Minuten (25–30 Spots) pro Stunde in der Hauptsendezeit zugenommen. Andere Programme mit einem „gefesselteren Publikum“ (wie Samstagvormittags-Kindersendungen und Spätfilme) weisen noch mehr Spots pro Stunde auf. Wenn Sie 7 Stunden Fernsehen am Tag schauen (wie Nielsen es für die „Durschnittsfamilie“ herausfand) sehen Sie täglich über 182 Werbespots (7 x 13 Minuten = 91 Minuten x 2 durch 30 Spots = 182).

Zum Zeitpunkt seines Grundschuleintritts hat ein 6jähriges Kind in Amerika bereits über eine Viertelmillion an Werbebeiträgen im Fernsehen geschaut.

Mehr über diese Zumüllung finden Sie im 2005er PBS-Programm „Frontline – The Persuaders“.


Ausmaß an Toleranz

Menschen ertragen mehr Anzeigen in Printmedien (Zeitungen und Zeitschriften), weil sie die Anzeigen leichter überfliegen und so diejenigen, die sie nicht interessieren, überblättern können. Außerdem suchen sich manche Leute gewisse Zeitschriften (Modehefte, Hochzeitsmagazine, Kochen, Dekoration) und lokale Zeitungen speziell wegen der Anzeigen darin aus.

Zuschauer tolerieren Werbung eher im kommerziellen Fernsehen (wo sie Kommerz erwarten) als im Kabelfernsehen oder auf öffentlich-rechtlichen Sendern. Zu Beginn waren alle kommerziellen Fernsehsender in den USA „frei“ für die Zuschauer (finanziert durch Werbung), anders als in anderern Ländern, wo eine jährliche Gebühr erhoben wird, um werbefreies Fernsehen zu finanzieren. Als das Kabelfernsehen aufkam, versprach es seinen bezahlenden Kunden werbefreie Spezialprogramme, doch bald erschienen Reklamespots auch auf den meisten dieser Sender.

Zu Beginn des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (und Radios) waren diese werbefrei (finanziert durch parteienneutrale Regierungsstellen). Doch schon bald „zwangen“ die Politik und Unterfinanzierung die Sender, auch Gelder von Firmen-„sponsoren“ zu akzeptieren, die viele „weiche“, „Wohlfühl“-Anzeigen schalteten und solche, die das Konzernimage stärken sollten. (Wie können Sie sich über die Ölfirmen aufregen, wenn sie so ein gutes Programm sponsorn?) Zuerst zielte solche Werbung nur auf Erwachsene ab (Sonntagmorgens, Talkshows), aber nun attackieren viele Sponsoren Vorschulkinder in ihren Kinderprogrammen; z.B. die Juicy-Juice „Wohlfühl“- und Markenerkennungs-Spots, so dass 4- oder 5jährige, die mit ihrer Mutter einkaufen gehen, diese Produkte wählen.

Leute ertragen Werbung, die in Filmen eingebettet ist („Product Placement“), eher in Hintergrundszenen als in Großaufnahmen, wenn der Filmheld eine Dose eines Softdrinks hochhält, die von dem Konzern produziert wird, der beides (Filmstudio & Getränkeproduktion) besitzt.

Pop-Ups und blinkende Werbebanner im Online-Bereich entwickeln sich rasch zu der störendsten Form des Eindringens der Werbung.


Allgegenwart

Werbung ist praktisch überall in unserer Gesellschaft. Man kann Reklame nicht ausweichen. [Anm. PM: Zwar nicht komplett, aber einen Großteil der Kommerzpropaganda kann man schon aus seinem Leben verbannen: kein Privat-TV oder -Radio, Adblocker im Browser, keine werbefinanzierten Zeitschriften, kein Flanieren in Shopping-Centern.] Werbung wird nicht verschwinden.

Beispiele für viele neue Techniken finden Sie hier: „Zipping and zapping ads works with VCRs, but not in reality“ (Wegzappen von Werbung geht beim Videorecorder, aber nicht im realen Leben)


Geräuschbelästigung

Glücklicherweise gibt es in den meisten amerikanischen Städten Gesetze gegen Lastwagen, die mit ihren plärrenden Lautsprechern umher fahren, aber diese Wagen sind in anderen Ländern ohne solch strengen Gesetze oder Konsumentenschutz, durchaus üblich.


Visuelle Verschmutzung

Im Jahre 1965 leitete die Frau von Präsident Lyndon Johnson (Lady Bird Johnson) eine Kampagne für den „Highway Beautification Act“, um die 600.000 Plakatwände loszuwerden, die schnell am Rande des neuen Interstate-Autobahnnetzes entstanden waren. Unter großem öffentlichen Druck verabschiedete der Kongress schließlich das Gesetz.

Aber nachdem das öffentliche Interesse wieder eingeschlafen war, überzeugten die Werbetafel-Lobbyisten im Stillen genügend Mandatsträger, um den Etat zu begrenzen, der jedes Jahr nötig war, um den Besitzern der existierenden Plakatwände die „Entschädigung“ zu zahlen. Deshalb stehen auch 40 Jahre später noch über 200.000 Plakatwände an den Straßen.

Viele Städte verkaufen heutzutage Werbefläche (Bänke, Bushaltestellen) und „Sponsor“rechte für öffentliche Erholungseinrichtungen, und erlauben so das zeitweise Aufstellen von Plakaten und Werbebanner bei Konzerten, Festivals, Rennen oder jeglicher Versammlung größerer Menschenmengen im öffentlichen Raum.

In den Schulen verspricht Channel One seinen Werbekunden, dass sie keine Überfüllung zu befürchten habe, keine andere Werbung, im wertvollen „Tagesteil“ (9 Uhr morgens bis 3 Uhr nachmittags), während sie ein Zielpublikum von über 8 Millionen Schülern in 15.000 Schulen liefern. [Anm. PM: Zum Glück gibt es inzwischen immer mehr Initiativen an Schulen, die diesen Sender aus dem Unterricht verbannen.]

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Apr
28
2010
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Fake TV – Reklame statt Recherche

Ein Grund mehr, kein Fernsehen zu sehen, insbesondere die dortigen „News“ nicht… das N3-Medienmagazin ZAPP berichtete über PR-Beiträge in Nachrichtensendungen in „Fake TV: Reklame statt Recherche“:

Ein leidiges Thema ist Schleichwerbung. Die ist leider längst nicht mehr nur ein Problem von Unterhaltung im Fernsehen. Der Sender RTL II wurde gerade gerügt, weil in einem Nachrichtenbeitrag über die Kölner Möbelmesse vor allem die eigene RTL II Möbelkollektion in höchsten Tönen gelobt wurde. Mit seriöser Information hat das wenig zu tun. Werbung wäre wohl der passendere Begriff. Solche gefakten Informationen kommen offenbar in fast allen Sendern vor. Zapp hat Nachrichten der vergangenen Jahre auf Fake-TV untersucht.

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Apr
26
2010
6

Information overkill – wie verändert das Internet unser Leben?

Zuerst die schlechte Nachricht: „ARD löschen zehntausende Dokumente“, als Folge des aktuellen Rundfunkvertrages, in dem es die Privatsender verstanden haben, dafür zu sorgen, dass die relevanten Informationen, die es im Fernsehen hin und wieder gibt (natürlich nicht im Privat-TV!) möglichst schnell wieder aus dem Internet verschwinden müssen. Bei der ARD wird es derzeit dann wohl gerade ernst:

Als Folge des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag hat die ARD ihre Onlineangebote deutlich reduziert und weitere Löschungen von Inhalten stehen an. Um dem neuen Regelwerk für Telemedien zu entsprechen, löschen die ARD-Sender derzeit bei vielen Angeboten Inhalte, die künftig vor allem aufgrund der begrenzten gesetzlichen Verweildauerregelungen wegfallen müssen. […]

[…] “Beliebte Inhalte der ARD im Internet müssen von uns aus dem Netz genommen werden. Und die Möglichkeit, unsere Sendungen zeitlich unbegrenzt abzurufen, ist bereits jetzt vielfach eingeschränkt. Das ist schade, da unsere Angebote vor allem wegen der vielen Audios und Videos für die Gebührenzahler einen deutlichen Mehrwert im Netz bieten. […]

Deshalb gilt es, die paar interessanten Sendungen, die im Fernsehen ausgestrahlt werden und die man vielleicht verpasst hat, möglichst zeitnah online zu schauen – wie beispielsweise die letzte Diskussionsrunde des ZDF Nachtstudios mit dem Thema „Information Overkill – wie verändert das Internet unser Leben?“, dass HIER (noch) in der Mediathek abrufbar ist.

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Apr
20
2010
3

So funktionieren Nachrichtenbeiträge

Nachrichtensendungen im Fernsehen – bei den Privatstationen ja gerne als „News“ bezeichnet, weil das in den vernebelten Hirnen von Marketingsprechfuzzis vermutlich viel „cooler“ klingt – haben sich über die Jahre immer weiter angeglichen. Viele Beiträge müssen einem pseudo-unterhaltsamen und spannungsbogen-simulierenden Muster folgen, das zumindest mir immer mehr auf den Geist geht (weswegen ich auch keine Fernsehnachrichten mehr sehe). Nun hat sich Charlie Brooker von der BBC-Sendung Newswipe einmal den Spaß gemacht und dieses Schema F heutiger Nachrichtenbeiträge gnadenlos seziert und in seiner ganzen Leere inszeniert. Sozuagen als Blaupause für jeden angehenden Nachrichtenmacher… Weitere Infos findet Ihr auf kannnichtsein.

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Mrz
16
2010
1

L.A. Law – Wie Hollywood unser Rechtssystem formt, Teil 2/2

exekutDies ist die Fortsetzung meiner gestern begonnenen Übersetzung des Artikels „L.A. Law: How Hollywood is shaping our legal system“ von Julie Scelfo, der unter dem Titel „When law goes Pop“ im Stay Free Magazin #18 erschien. Es ist ein sehr interessantes und in Bezug auf den Einfluss, den das Fernsehen mittlerweile auch auf unsere Rechtssprechung hat, enthüllendes Interview mit dem Juraprofessor Richard Sherwin.

————-

Julie Scelfo (J.S.): Im amerikanischen Rechtssystem sollen Anwälte sich auf Rechts-Argumente stützen, nicht auf Gefühle. Was passiert mit Verhandlungen, die auf dieser Art von nicht greifbaren – und in manchen Fällen unterbewussten – Methoden basieren, im Gegensatz zu den traditionellen mündlichen Argumenten, die auf Fakten beruhen?

Richard Sherwin (R.S.): Die größte Angst, die mit visuellen Überzeugungsmethoden verbunden ist, ist die Vorstellung, dass das Ideal der rationalen Überzeugung kurzgeschlossen wird mit einer eher emotionalen Form der Beurteilung. Die Furcht ist, dass einige Formen von Vorurteilen, die bei einer mündlichen Präsentation nicht zum Tragen kommen, auf der visuellen Ebene funktionieren können, weil visuelle Bilder so überbestimmt sind. Irgendwo dort in den unbewussten Tiefen des Bildes schweben einige nützliche Assoziationen herum. Eine der Sachen, de ich mit meinem Buch erreichen möchte, ist, Richter über die Komplexität der visuellen Bilder aufzuklären, so dass sie mit diesen Gefahren der Vorurteile effektiver umgehen können.

J.S.: Lesen Richter das Buch?

R.S.: Ich stehe in Kontakt zu Richtern, und sie sind begierig darauf, solchen Input zu bekommen, weil sie mehr und mehr visuelle Medien im Gerichtssaal sehen, wie z.B. Überwachungsvideos, die bearbeitet wurden. Denken Sie an den Fall von Rodney King, wo Sie einen Staatsanwalt hatten, der absolut überzeugt davon war, dass es ein klarer Fall war, der auf dem George Holliday-Video fußte, das King zeigte, wie er von der Polizei verprügelt wurde. Er machte sich nicht bewusst, dass die Anwälte, die die L.A. Polizeibeamten verteidigten, durch Editierung der Bilder die ganze Geschichte geändert hatten.

J.S.: Wie haben sie das Video bearbeitet?

R.S.: Die Verteidiger verlangsamten es enorm, so dass man Bild-für-Bild-Sequenzen sah, die die Gewalt abmilderten. Aber noch viel schlimmer für die Anklage war eine Veränderung der Geschwindigkeit der Bilder im Zusammenhang mit der Verteidigungs-Theorie. Die Verteidigungs-Theorie war, das Rodney King alles unter Kontrolle hatte und dass er, wenn er die vorgeschriebene Bauchlage eingenommen hätte, nichts weiter passiert wäre. Der einzige Grund, weshalb er geschlagen wurde, so ging die Argumentation, war, dass er sich der Festnahme widersetzte. Und was die Bilder in der verlangsamten Form zeigten, war Rodney King, wie er sich nach oben bewegte, und ein Schlagstock, der niedersauste.

S.J.: In der Reihenfolge?

R.S.: In der Reihenfolge. Als Kings Gliedmaßen nach unten gingen, ging der Knüppel nach oben und ein anderes Körperteil ging nach oben und ein anderer Schlagstock sauste nieder. Und genau das haben die Geschworenen gesehen. Mit anderen Worten, sie lasen Kausalzusammenhänge in die Bilder. Die Verteidigung orchestrierte das Video so, dass die Geschworenen Kausalität ableiteten.

S.J.: Was gegen die Intuition ist. Man würde denken, dass das Videoband die Geschworenen zu dem Schluss bringen würde, dass die Beamten, die King schlugen, schuldig waren.

hallwR.S.: Der Staatsanwalt forderte die Geschworenen unablässig dazu auf, sich das Band anzuschauen, ohne mehr zu sagen. „Sehen Sie sich nur das Band an.“ Aber was ihm nicht klar war: die andere Seite hatte die Bedeutung der Bilder okkupiert, indem sie die Geschichte in einer anderen Weise erzählten, so dass, wenn die Leute das Videoband sahen, sie es durch die Augen der Verteigungs-Geschichte betrachteten. Der Staatsanwalt bot keine eigene Erzählung an, und deshalb war dies die einzige Geschichte, die die Geschworenen hatten. Sie benutzen sie, um die Informationen, die sie auf dem Video sahen, zu ordnen. Kognitive Psychologen haben gezeigt, dass die Art, wie Menschen zu Beurteilungen in Rechtsfällen gelangen, ist, indem sie eine Geschichte erzählen, wie alles geschah. Anwälte gewinnen Prozesse, indem sie die beste Geschichte erzählen – diejenige, die die meiste Glaubwürdigkeit versammelt, diejenige, die am meisten Sinn ergibt, diejenige, die am anziehendsten wirkt. Und wenn man selbst keine Geschichte erzählt, und die Gegenseite eine eigene Story bietet und man selbst nur Bruchstücke von Argumenten, wird man es bedeutend schwerer haben, die Geschworenen zu überzeugen.

J.S.: Ich weiß nicht, wie Sie in Bezug auf den King-Prozess fühlen, aber würden Sie den Einsatz visueller Technologie als Erfolg werten?

R.S.: Ich bin ein unbedingter Verteidiger des Systems der Prozessgegner, aber nur, wenn es wirklich funktioniert. Wenn ein Anwalt oder ein Richter nicht ausreichend in einem Medium geschult ist, wie z.B. in den visiuellen Medien, dann sollte dieses Medium nicht für das Kreuzverhör verwendet werden. Und wenn es nicht in dieser Weise angewendet wird, ist das System der Prozesgegner nicht wirklich funktionsfähig. Das Problem, das ich mit dem King-Fall habe, ist, dass es die Verteidigung zu einfach hatte. Wenn ein Staatsanwalt mit der selben Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und der selben Medienkompetenz um das Urteil der Geschworenen gekämpft hätte, dann hätten wir meiner Ansicht nach einen anderen Prozessausgang erlebt.

J.S.: In anderen Ländern, vor allem in Kanada, ist Medienkompetenz bereits seit langer Zeit Teil der Ausbildung. Medienkritiker in diesem Lande haben sich längst dafür stark gemacht. Wann werden wir dies also auch in den USA sehen?

R.S.: Die USA hinkten der Welt in punkto Medienkompetenz schon immer hinterher. Leute mit paranoiden Fantasien mögen hier Erklärungen anbringen, wieso dies der Fall ist und wer hier die Kontrolle besitzt. Ich weiß es nicht. Für mich ist eine der Zielvorstellungen, dass, wenn man in einer Demokratie lebt, man einen sinnstiftenden Informationsfluss benötigt. Einen bedeutungsvollen Austausch. Dies war seit jeher einer der Grundsätze der Regierung seit der Staatsgründung. Sie können keine florierende Demokratie haben, wenn die Menschen nicht ausreichend informiert sind. Insbesondere wenn man den verzerrenden Einfluss des Fernsehens berücksichtigt, denke ich, dass Medienkompetenz grundlegend für eine informierte Wählerschaft ist, und informierte Geschworene. Und wenn Sie auf Bilder reagieren, weil sie Sie an einen Film erinnern oder sie eine gefühlsmäßige Reaktion hervorrufen, die auf einer Werbung basiert, die Ihnen gefällt, dann steht das nicht im Einklang mit dem Ideal eines abwägenden Diskurses, den wir anstreben sollten.

J.S.: Damit haben Sie einen weiteren Grund angeführt, wieso Medienkompetenz unterstützt werden sollte: sie befähigt Bürger, besser zur Rechtssprechung beizutragen.

R.S.: Das stimmt. Ich denke, dass der Konsum von Informationen der wichtigste Konsumakt ist, den es gibt. Und wenn wir ihn nicht in einer kritischen Art und Weise durchführen, ist unser politisches Schicksal völlig offen – und in Gefahr.

J.S.: Wir stehen am Beginn eines neuen Jahrtausends. Was müssen die Menschen jetzt tun, um zu verhindern, dass aus der Rechtssprechung Popkultur wird?

R.S.: Es hängt direkt mit dem zusammen, was wir gerade über die Kultivierung eines kritischeren Grundhaltung gesagt haben, also Fähigkeiten zu lernen, um das zu interpretieren, was wir sehen. Und natürlich muss der Wille da sein, hinter die bloße Oberfläche der Bilder zu schauen. Eine Sache, die an der postmodernen Ära stimmt, ist, dass es schwieriger wird, zwischen Fiktion und Realität, oder zwischen Fantasie und Realität zu unterscheiden. Bis zu dem Punkt, wo Menschen politische oder juristische Entscheidungen treffen, die keinen Bezug zum realen Leben haben, sondern deren Impuls sie aus dem Fernsehen oder von Filmen ziehen – das ist ein verstörender Gedanke. Einer der Gründe dafür, dass Matrix so ein erfolgreicher Film war, ist vielleicht, weil er diesen Nerv getroffen hat, das wir möglicherweise in einer Welt frei schwebender Bilder leben, und dass es vielleicht egal ist. Wenn es nur Bilder sind, die wir erzeugen und auf die wir reagieren, wenn es nichts weiter gibt, wo man ankommen kann, dann lasst uns einfach diese Reise tun. Es ist wie Quentin Tarantinos Welt in Pulp Fiction: Gewalt ist lustig. Das reale Leben schlussendlich von Unterhaltungswerten abhängig zu machen ist, für meinen Teil, eine erschreckende Sache, wenn es um Politik und Rechtssprechung geht. Im Kino vielleicht nicht, aber in der Politik und Justiz schon. (…)

J.S.: Sie sagen also, dass es irgendwo eine Art von Realität geben muss.

R.S.: Ich behaupte nicht, dass es eine Form von Realität im gewöhnlichen Sinne von beweisbaren objektiven Dingen geben muss. Aber es gibt Bedeutungen und Werte und Glaubenssätze, die wir unterstützen können, auch wenn wir wissen, dass sie konstruiert sind. Sie können einen Film sehen und ihn genießen, in eine Vorlesung gehen und ihn zerpflücken und ihn anschließend noch mehr genießen. Wenn Sie verstehen, wie er erstellt wurde und wie er funktioniert, können Sie ihn am nächsten Tag immer noch sehen und von seiner Kraft verzaubert werden. Irgendwann müssen Sie eine Art von Bedeutung bejahen. Irgendwann. Eine ständige Diät von Desillusionierung nährt einen nicht ausreichend, um ein gutes Leben zu führen. Wir müssen uns klar machen, was unsere Glaubenssätze und Überzeugungen und Werte sind und sie bekräftigen

J.S.: Was würden Sie Kritikern antworten, die sagen: „Nun, Sie sind halt ein Linker, Sie sagen, dass die Gesellschaft auseinanderfällt, dass Rechtssprechung und Medien und Unterhaltung und Realität alle durcheinandergewürfelt werden, aber eigentlich war es schon immer so. Menschen haben sich immer Fiktion und Fantasie zugewendet, um ihr eigenes Leben zu verstehen und zu interpretieren.“

R.S.: Ich denke, das ist richtig. Ich stimme zu. Aber wir müssen die verschiedenen Dinge, die wirken, kennen. Die Frage ist nicht: „Können wir die Fiktion aus unserem Leben tilgen?“. Die wichtigere Frage ist: Welche fiktionalen Interpretationen haben reale Konsequenzen in Politik und Rechtssprechung, wie beeinflussen sie das Leben um uns herum? Wir sollten uns nicht  der Selbsttäuschung hingeben, dass es „nur Fiktion“ ist, oder „nur ein Bild“, lasst uns die Reise antreten, weil es so eine tolle Erfahrung ist. Ich bin nicht gegen Stimulierung der Sinne, aber ich möchte nicht, dass das Leben eines Menschen in einem Mordprozess davon abhängt.

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Dazu passt auch der Artikel „The CSI Effect“ in U.S. News & World Report (2005), den ich dann Euren Englischkenntnissen anheim gebe. :-) Er verdeutlich auf jeden Fall noch mal, welch verheerende Wirkung die ganzen gescripteten und inszenierten Crime-Storys im Fernsehen auf die reale Rechtssprechung haben.

(…) Stoked by the technical wizardry they see on the tube, many Americans find themselves disappointed when they encounter the real world of law and order. Jurors increasingly expect forensic evidence in every case, and they expect it to be conclusive.

“Your CSI moment.” Real life and real death are never as clean as CSI’s lead investigator, Gil Grissom, would have us believe. And real forensics is seldom as fast, or as certain, as TV tells us. Too often, authorities say, the science is unproven, the analyses unsound, and the experts unreliable. At a time when the public is demanding CSI -style investigations of even common crimes, many of the nation’s crime labs–underfunded, undercertified, and under attack–simply can’t produce. When a case comes to court, “jurors expect it to be a lot more interesting and a lot more dynamic,” says Barbara LaWall, the county prosecutor in Tucson, Ariz. “It puzzles the heck out of them when it’s not.” (…)

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