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Vieles von dem, was Werbetreibende tun, ist eine Verletzung der Privatsphäre

empty_sign [1]Das Thema (Anti-)Werbung bzw. der Widerstand gegen die um sich greifende Kommerzialisierung unseres kompletten Lebens ist ja bekanntlich eines der Kernthemen meines Blogs und beschäftigt mich ohnehin schon seit vielen Jahren. Und so freue ich mich, wenn ich in den Weiten des Netzes auf immer mehr Hinweise darauf stoße, dass dieses Problem des ausufernden Marketings – das auch in direkter Wechselwirkung steht zum ewigen Wachstumszwang der Wirtschaft, das unserem System zugrunde liegt – weltweit nach und nach ins Bewusstsein sickert. So fand ich neulich einen Artikel aus dem Jahre 2004, der in der amerikanischen Werber-Zeitschrift Advertising Age veröffentlicht wurde: Much of what advertisers are doing is an invasion of privacy [2] – immerhin tauchen solch kritische Gedanken damit auch in Marketingkreisen (vereinzelt) auf. Wie gewohnt übersetze ich den Artikel für Euch, da ich ihn für sehr nett halte, auch wenn er sich in seiner Wortwahl etc. halt direkt an Marketingtreibende – die Leser dieses Magazins – richtet und deswegen z.B. den generellen Sinn von Reklame, also die Ankurbelung von (unnötigem) Konsum, nicht in Frage stellt.


Vieles von dem, was Werbetreibende tun, ist eine Verletzung der Privatsphäre
Warum die öffentliche Stimmung gegen rücksichtslos bedrängendes Marketing immer weiter steigt
Advertising Age 26. April 2004, Gary Ruskin

Gary Ruskin ist der Leiter der Non-Profit-Organisation Commercial Alert. Die in Portland beheimatete Gruppe zur Beobachtung/Überwachung von Marketing wurde 1998 von Ruskin und dem Verbraucherschützer Ralph Nader gegründet.
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In den USA und quer über den gesamten Erdball gibt es eine Vielzahl von Anzeichen einer wachsenden Revolte gegen die Werbeindustrie. Umfragen zeigen eine steigende Ablehnung dieser Industrie und ihrer aggressiven Taktiken. Einer neuen Umfrage von Yankelovich Partners zufolge sagen 65% der Amerikaner, dass sie „permanent mit zu viel Werbung bombardiert werden”; 61% denken, dass die Menge an Werbung und Marketing, der sie ausgesetzt sind, „außer Kontrolle geraten ist“; 60% berichten, dass ihre Einstellungen zur Reklame „erheblich negativer sind als noch einige Jahre zuvor“.

Öffentliche Proteste

Als Antwort auf die Abscheu der Fans darüber, dass San Francisco die Namensrechte an seinem Baseballstadion verkauft hatte, beschloss der Stadtrat, es wieder in Candlestick Park zurück zu benennen, womit es das erste Profistadion ist, das seinen alten Namen aufgrund von Protesten zurückerhält. In Denver war Bürgermeister John Hickenhooper der führende Gegner der Entscheidung, die Namensrechte des Mile High-Stadiums zu verkaufen. Das Platzieren von Werbung auf der Kleidung und den Helmen der Baseballprofis löste in diesem Monat eine Flut an negativen Berichterstattungen sowie einen Brief eines US-Senators und ein New York-Times-Editorial aus.

Werbetreibende werden in Massen aus den Schulen verbannt. Channel One, der Serviceanbieter für Werbung in Schulen, wurde letztes Schuljahr aus Nashville entfernt und wird demnächst aus Seattle herausgeworfen. Neue Beschränkungen für Reklame oder Verkauf von Soft Drinks und Junkfood in Schulen wurde z.B. in Kalifornien, Texas, New York City und Philadelphia beschlossen.

Mächtige Gegner

Dies sind nur einige Beispiele, ich könnte noch viele mehr anführen. Fakt ist, dass die Werbeindustrie sich eine gewaltige Gruppe an Gegnern heranzüchtet. Es täte der Industrie gut, darüber nachzudenken, warum dies geschieht. Der Hauptgrund, vermute ich, ist, dass diese Industrie keine Grenzen oder Beschränkungen anerkennt. Es gibt praktisch keinen Ort, an dem die Werber keine Reklame platzieren würden. Viele Amerikaner akzeptieren Werbung zwar als einen Teil des „Lebensspektakels“, aber die Werbeindustrie scheint in einer Todesspirale aus mangelndem Respekt zu stecken. In ihrem verzweifelten Kampf, die Aufmerksamkeit von potentiellen Kunden zu erhaschen, erfindet die Industrie praktisch jede Woche eine neue aufdringliche Methode – bis die Bürger alle in den Wahnsinn getrieben werden durch die ganzen Plakate, Product Placements, Spamfaxe, Pop-Up-Fenster und den ganzen anderen Kram.

Was den Spruch „Der Kunde ist König“ angeht – nun, niemand belästigt einen wirklichen König.

Mangel an Respekt

Die implizite Botschaft, die die Werber aussenden, ist eine komplette Ignoranz in Bezug auf unsere Zeit, unsere Privatsphäre, unseren klaren Kopf („peace of mind“) und nicht zuletzt in Bezug auf unsere Sorge um unsere Kinder, „Deine Aufmerksamkeit gehört mir“, sagt die Industrie indirekt. „Wir widmen uns ihr die ganze Zeit.“ Dieser implizite Mangel an Respekt vor den Konsumenten beginnt die expliziten Botschaften zu überlagern, die jeder Werbetreibende rüberzubringen versucht.

Der Mangel an Respekt dieser Industrie wird deutlich in der Verbreitung von aufgezwungener Werbung. Wenn Reklame beliebt wäre, wieso zwingt uns die Industrie dann, sie zu sehen? Aber sie tut es; die Industrie macht sich die „gefangenen“ Zuschauer in u.a. Schulen, Universitäten, Kinos, Flughäfen, öffentlichen Verkehrsmitteln, Tankstellen und Arztpraxen zunutze. Noch schlimmer ist die Missachtung der Industrie für unsere Gesundheit und die unserer Kinder. Amerikanische Kinder leiden unter einer Vielzahl von mit Marketing zusammenhängenden Krankheiten, so wie Fettleibigkeit und Typ 2-Diabetes, während Millionen von Kindern durch die Werbung für Zigaretten sterben werden, wenn sie älter sind. Dennoch verneint die Industrie jegliche Verantwortung für die nachlassende Gesundheit unserer Jugend und die Aussicht, dass unsere Kinder eine kürzere Lebensspanne haben werden als wir.

Weltweit hat die Werbeindustrie eine mächtige Gegenreaktion in Bezug auf ihren Einfluss auf die öffentliche Gesundheit ausgelöst. Letztes Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „Framework Convention on Tobacco Control“ beschlossen, die Werbung für Tabakprodukte in den Ländern verbietet, deren Verfassung sie erlauben. Hunderte Gesundheitsorganisationen, Wissenschaftler und Politiker auf der ganzen Welt haben sich für den Vorschlag eines weltweiten Verbots von Werbung für ungesunde Nahrung, die sich an Kinder & Jugendliche richtet, ausgesprochen

Korrumpierung bürgerlicher Einrichtungen

Und dann ist da die Korrumpierung öffentlicher Einrichtung, wie Stadtverwaltungen, Schulen und Polizei. Coca-Cola hat einen Marketing-Vertrag mit Huntington Beach und East Lansing geschlossen, während PepsiCo Verträge mit San Diego und Fresno hat. Die Schulen sind gespickt mit Werbung. Genauso wie unsere Postämter. Eine Firma hat sogar versucht, Reklame auf Polizeiautos durchzusetzen. Unsere öffentlichen Einrichtungen sehen immer mehr wie der kommerzielle Pfand in einer Banenenrepublik aus.

Wir Amerikaner sind ein toleranter Haufen, aber es gibt eine Grenze für das Maß an Ärger und Beleidigung, die wir hinnehmen.

Fazit: wenn Ihr Geringschätzung für uns Bürger habt, so haben wir für Euch ebenfalls nur Verachtung. Das Resultat dieser gegenseitigen Missachtung wird in Gerichten und Gesetzgebungen in den nächsten Jahrzehnten entschieden werden, aber die wachsende Aufdringlichkeit und Unbeliebtheit der Werbeindustrie lässt keine großen Hoffnungen auf deren Überlebenschancen aufkommen.

Gegenseitige Missachtung ist schlecht fürs Geschäft. Aber sie könnte zurückgedreht werden. Ihr könntet mit ein wenig Selbst-Beschränkung beginnen.

Richtlinienentscheidungen

Dieses Land hungert nach Entscheidungen für strengere Richtlinien im Werbebereich. Wenn Werber im allgemeinen Lärm auffallen wollen, sollten sie kommerzielles „unerlaubtes Betreten“ beenden. Sorgt dafür, dass Ihr uns respektiert, und unsere öffentlichen Einrichtungen, unsere Kinder, nichtkommerzielle Kultur, Gesundheit und öffentliche Plätze. Dann handelt entsprechend. Dies würde Werbung weniger belästigend und vermutlich auch effektiver machen.

Wenn Ihr keine Verantwortung für Euer eigenes Tun übernehmt, seid nicht überrascht, wenn die Bürger Linderung verlangen. Zum Beispiel: Maßnahmen dagegen, dass jemand dazu gezwungen wird, Reklame zu schauen; das Verbot von Anzeigen, die die Verbreitung von Marketing-bezogenen Krankheiten fördern; keine Werbung für Kinder unter 12 Jahren; und keine Verwandlung von Verwaltungen, Schulen und öffentlichen Plätzen in Werbeflächen.

Es ist besser für die Industrie, freiwillig zu handeln. Ansonsten werden verärgerte Bürger nach langem Gerichtsstreit sich von der kommerziellen Beschallung befreien und sie durch das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, ersetzen.

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